Interview mit Algis Klimaitis, Vorstandsvorsitzender des Wiener Instituts für Kontinental-Europäische Studien
Laut einer soziologischen Studie der Technischen Universität Kaunas zu den allerwichtigsten Sorgen der litauischen Bevölkerung steht an erster Stelle die schlechte wirtschaftliche und soziale Absicherung und Situation im Lande, an zweiter Stelle die alternde Bevölkerung und an dritter Stelle die viel zu intensive Emigration in den Westen.
An vierter Stelle stehe der Alkoholismus und die Drogensucht, äußerte Algis Klimaitis, Vorstandsvorsitzender des Wiener Instituts für Kontinental-Europäische Studien (IKES), im Sputnik-Interview.
Dem folgt die Unzufriedenheit mit dem Geburtenrückgang, dass es zu wenige Geburten gibt. An sechster Stelle steht die Angst vor dem internationalen Terrorismus in Verbindung mit dem Islamismus, obwohl Litauen weit davon entfernt ist.
Das Interessanteste an dieser Studie sei, so Klimaitis, dass bei den normalen Menschen die russische Bedrohung an siebter Stelle, also an allerletzter Stelle stehe.
Das steht im krassen Gegensatz dazu, dass ja im Westen in den großen Medien sehr oft behauptet wird, dass die Balten eine irrsinnige Angst vor einer Invasion aus Russland hätten. Die Umfrage widerspricht auch den Verlautbarungen aus dem Präsidentenamt, dem Außen,- und dem Verteidigungsministerium, die allesamt immer wieder die große Gefahr eines russischen Angriffes heraufbeschwören.
Der Experte sagte, dass dies ein Ausdruck eines normalen Gefühls sei, „weil kaum jemand tatsächlich glaubt, dass Russland Litauen überfällt. Natürlich gibt es auch welche, die Angst davor haben, und man sollte das nicht unterschätzen. Das ist zumindest das Elektorat der sogenannten Landsbergis-Partei, der,Heimat-Union‘, einer konservativen Partei in der Anfangszeit (Tėvynės Sąjunga Konservatorių Partija — TSKP). TSKP war komischerweise die Abkürzung für die KPdSU (Tarybų Sąjungos komunistų partija).
Aus diesem Elektorat heraus gebe es natürlich Vorbehalte gegenüber Russland, so Klimaitis weiter.
Man muss aber sehen, wie viel Prozent es sind. Wobei diejenigen, die die Landsbergis-Partei wählen, nicht immer zu 100 Prozent russlandfeindlich gestimmt sind. Es handelt sich nur um einige Prozentpunkte der Bevölkerung.
Obwohl Litauen Mitglied der Nato sei, so der IKES-Vorstandsvorsitzende, „wurde die ganze Nato-Schutzgarantie in Paragraph 5 niemals im Ganzen ins Litauische übersetzt. Diese Schutzgarantie ist relativiert. Da kann jeder der Partner nach eigenem Ermessen beurteilen, ob er da nun eine Aktion gegen einen Aggressor eines Nato-Mitgliedes unternimmt oder nicht, und auch in welcher Form. Selbst das Verteidigungsministerium hat Angst, deutlich zu sagen, wie dünn doch diese Garantieerklärung ist. Der einfache litauische Bürger (und wahrscheinlich auch der lettische und estnische) sind über diese Paragraph-5-Formulierung überhaupt nicht informiert.“
Da die Nato sich sehr weit nach Osten, und zwar in das Baltikum hineingezogen habe, urteilt Klimaitis, und dort einige Hundertschaften fremder Soldaten stationiert und Waffentechnik dorthin gebracht habe, habe sie dadurch die baltischen Länder, wenn es zu einer Auseinandersetzung komme, in eine gefährliche Zone verwandelt.
Und das spüren die Menschen und wollen es nicht. Sie wollen diese anwachsende Gefahr gar nicht haben. Sie wollen in Ruhe und Frieden leben und wollen mit Russland und Weißrussland gute wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen haben.
Emigration der Landsleute nach Westen besorgt Litauer
Klimaitis schlussfolgert: „Uns fehlen einfach Facharbeiter. Es sind kaum noch Krankenschwestern da. Viele junge Ärzte verlassen das Land, weil sie in Europa viel bessere Verdienstmöglichkeiten haben. Sehr viele Techniker bis hin zu Handwerkern, die viel mehr verdienen im Westen, sind abgesaugt worden.“
Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens habe das Land knapp vier Millionen Einwohner gehabt, so der Experte.
Jetzt haben wir 2,8 Millionen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist weggegangen, und zwar nicht die Alten und nicht die Kinder, sondern junge gut ausgebildete Menschen in perspektivreichen Berufen. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil sie in der EU mehr verdienen.
Diese Art der Migration sei für Litauen außergewöhnlich schädlich, bedauert Klimaitis, denn der Westen habe dafür niemals irgendeine Entschädigung gegeben. „All die Ausbildung dieser Fachleute, das Bauen der Schulen und Universitäten, hat sehr viel Geld gekostet. Viele von diesen Migranten haben ihre Ausbildung noch zu Sowjetzeit in Litauen bekommen. Einen finanziellen Ausgleich hat es nie gegeben.“
Die Landsbergis-Partei ist heutzutage in der Opposition. Die führende Kraft in der Regierungskoalition ist die Bauernunion (Valstiečių sąjunga) mit dem Parteivorsitzenden Ramunas Karbauskis. Aber der Ministerpräsident ist Saulius Skvernelis. Laut der Verfassung Litauens leitet der Präsident (heute die Präsidentin Dalia Grybauskaite) die Außen- und Sicherheitspolitik.
von Nikolaj Jolkin | SputnikNews
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