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„In Brüssel hofft man“
EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte unlängst, dass Polen ohne ausreichende Finanzierung die Union verlassen könnte. Nach seinen Worten könnte die Regierung in Warschau ein Referendum über den EU-Austritt organisieren, wenn die Verbindlichkeiten gegenüber Brüssel wachsen sollten. „Und dann würden die Behörden alles tun, um die Polen zu überzeugen, dass es an der Zeit ist, sich von der EU zu verabschieden“, schloss Tusk nicht aus.
Er gab auch zu verstehen, dass man in Brüssel keine Illusionen bezüglich der Absichten Warschaus habe. „In Brüssel hofft man immer noch (ich kann leider nicht sagen, man würde daran glauben), dass Polen in der Europäischen Union bleibt.“
Einer der Gründe, warum Tusk es wagte, das Kind beim Namen zu nennen, ist, dass er sieben Jahre lang polnischer Ministerpräsident gewesen war.
Der Streit zwischen Brüssel und Warschau war wegen einer Gerichtsreform in Polen ausgebrochen. Die EU-Kommission fand, dass die neuen Gesetze die Prinzipien der Unabhängigkeit der Justiz verletzen und dass die Regierungsbehörden nun die Justiz kontrollieren können.
Am Ende leitete die Union ein Verfahren ein, in dessen Rahmen Polens Stimmrecht im EU-Rat theoretisch aberkannt werden kann. Allerdings wäre so ein Skandal unwahrscheinlich, zumal Warschaus Verbündeter, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, bereits versprochen hat, Budapest würde in solch einem Fall eventuell sein Vetorecht nutzen.
Polen und Ungarn sind auch im Kontext der Flüchtlingskrise solidarisch. Die beiden widerstehen den Forderungen Brüssels sowie Berlins und Paris‘, Einwanderer aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika aufzunehmen. In Brüssel lässt man sich auch nicht gefallen, dass die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ sich unverhohlen nationalistische Parolen erlaubt. Also widersteht Polen dem Zentrum der riesigen Union.
Diese Situation erinnert teilweise an die 1980er Jahre, als Polen Mitglied eines anderen, nämlich des sozialistischen Blocks war. In den 1970er Jahren musste die Sowjetunion den Umfang der finanziellen und materiellen Hilfen für Polen aufstocken: Die antikommunistischen Stimmungen in der polnischen Gesellschaft waren enorm stark, und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei musste sich um die Erhöhung des Lebensniveaus der Bevölkerung bemühen. In Moskau musste man die damit verbundenen zusätzlichen Ausgaben akzeptieren, damit Warschau in seinem Einflussraum bleiben würde.
Aber in den 1980er Jahren begann die Ära der Oppositionsbewegung auf Basis der „Solidarność“-Gewerkschaften. Die Regierungspartei musste angesichts der Forderungen der Protestierenden weichen. 1989 kam die „Solidarität“ an die Macht, aus der Verfassung wurde der Artikel über die Führungsrolle der Kommunistischen Partei gestrichen, und die Volksrepublik wurde in die Dritte Polnische Republik umbenannt.
1990 wurde der „Solidarność“-Chef Lech Walesa zum Präsidenten gewählt. Später berichteten Medien, er hätte in den Jahren des verbissenen Kampfes gegen das kommunistische Regime mit den Sicherheitskräften dieses Regimes intensiv kooperiert. Doch dieser Skandal endete im Nichts: Die Polen sind auf Walesa genauso stolz wie auf Papst Johannes Paul II.
Bald darauf wurden der Warschauer Vertrag und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe aufgelöst – die sozialistischen „Gegenüber“ der Nato und der EU. Warum der Ost-Block zerfallen ist, ist eine Frage für Historiker, aber dass Polen damals einer der größten „Saboteure“ war, ist allgemein bekannt.
„Polen darf nicht so einfach wegziehen“
Ähnlich stellt sich Polen jetzt der EU gegenüber. Aber es ist unwahrscheinlich, dass die Kontroversen zwischen den beiden die EU-Basis ins Schwanken bringen werden.
„Die EU-‚Lokomotiven‘, Frankreich und Deutschland, können sich auf die Bildung eines einheitlichen Europas einigen. Hier ist wichtig, wer den Kern dieses Bündnisses bilden und wer an seiner Peripherie bleiben wird“, findet der Politologe Juri Solosobow vom Institut für nationale Strategie.
„In der aktuellen Situation wird man Polen nicht so einfach wegziehen lassen. Warschau ist der größte Finanzhilfeempfänger in der EU, und ab 2020 müsste es diese Gelder zurückzahlen. Deshalb wird Brüssel auf Polen nicht verzichten. Wie deutsche Experten scherzen, wäre es leichter, die polnische Führung zu wechseln als die Situation in Warschau außer Kontrolle geraten zu lassen. Auch in Polen selbst denkt niemand wirklich an einen Austritt aus der EU – alle mögen es doch, in Komfort zu leben.“
Es bleibt aber die Frage: Warum hat Warschau das Lager gewechselt, bleibt aber weiterhin in Opposition? „Polen verlor insgesamt drei Mal seine Staatlichkeit, um sie dann zurückzugewinnen. Die Mentalität des polnischen Establishments hat ihre Wurzeln in der Geschichte. Dabei gilt die Regel: sich auf eine Kraft stützen und diese innerhalb des Landes suchen“, so der Experte weiter.
Darüber hinaus wisse man in Warschau, dass Polen einst ein großes Reich gewesen sei und viele Völker kontrolliert habe. Deshalb versuche Warschau, mit der EU gleichberechtigt zu sprechen, ergänzte Solosobow.
Der Politiker und Politologe Sergej Stankewitsch, der mehrere Jahre in Polen lebte, führt das Verhalten Warschaus gegenüber Brüssel ebenfalls auf die Geschichte zurück:
„In der Rzeczpospolita handelten Abgeordnete nach dem Prinzip des ‚freien Vetos‘, und jeder Abgeordnete durfte diese oder jene Debatte einbringen. Diese Eigenschaft ist im nationalen Charakter geblieben: Polen hat das Vetorecht. Hinzu kommt die traditionelle polnische Sturheit: ‚Ich werde vielleicht sterben, bleibe mir aber treu‘ – deshalb ist dort das sozialistische System gescheitert“, so Stankewitsch.
Wohin könnte Polen weiter gehen?
Es ist offensichtlich, dass die Parallelen zwischen dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und der EU sehr oberflächlich sind, und die EU-Skepsis der Polen in der Debatte mit Brüssel ist vorerst nichts als ein zusätzliches Argument im „Handel“ mit den Europäern. Dennoch ist klar, dass Warschau Ansprüche darauf hat, ein neues Machtzentrum in der Alten Welt zu werden. Nur dürfte es dafür keine Peripherie neben wirtschaftlich stärkeren Ländern, sondern müsste eine „Lokomotive“ der EU und imstande sein, eigene Ambitionen umzusetzen.
„Eine Verschiebung der östlichen EU-Grenze weiter nach Osten wird noch jahrelang unmöglich bleiben: Die Union muss noch den Balkan ‚verdauen‘. Europäische Politiker sagen immer öfter, dass die Ukraine in den nächsten 25 oder 30 Jahren keine Chance hätte, in die EU aufgenommen zu werden. Polen versucht, diese historische Zeit für die ‚Arbeit‘ mit den früheren Kresy-Gebieten, den ihm verlorengegangenen Teilen der Ukraine, dem allmählich leer werdenden Litauen und mit Weißrussland (nach Lukaschenko) zu nutzen. Das wird keine banale Expansionspolitik sein, sondern eher ein Versuch, eine günstige Atmosphäre für Wirtschaftskooperationen, also eine für Polen nützliche Entwicklung zu schaffen“, so Experte Solosobow.
Der Polen-Kenner Stanislaw Stremidlowski findet, dass Polen wieder „Ansprüche einer Großmacht“ habe und dass es ihm innerhalb der EU viel zu eng sei.
„Für Warschau stellt sich die Frage: Wohin könnte es weiter gehen? Ein ‚Pufferraum‘ zwischen Moskau, Peking und Brüssel zu bleiben, würde Stagnation bedeuten. Die Bildung eines Blocks ‚Polen-Weißrussland-Russland‘ als Konföderation in den nächsten zehn bis 15 Jahren wäre durchaus eine Alternative.“
Wegen der heftigen Rhetorik Warschaus gegenüber Moskau und Minsk scheine so etwas aktuell jedoch kaum realistisch. Aber früher oder später werde Polen pragmatisch vorgehen, zeigt sich Solosobow überzeugt. „Die osteuropäischen Länder hatten einst gut entwickelte infrastrukturelle Verbindungen. Zwar sind sie inzwischen großenteils zerstört, aber am Beispiel der Zollunion sehen wir, dass die Industrieproduktions- und Handelsketten auf einer neuen Ebene schnell wiederhergestellt werden können.“ Laut dem Experten werden sich die Wirtschaftsstrukturen der EU und der EAWU künftig annähern, so dass die Transitwege zwischen den Superriesen Europa und China wiederhergestellt werden.
Allerdings werden für diese neue Anknüpfung offenbar viele Jahre akribischer Arbeit nötig sein: Denn erst vor kurzem kam aus Warschau die Nachricht, dass aus dem polnischen Außenministerium demnächst alle Absolventen der Moskauer Hochschule für internationale Beziehungen (MGIMO) entlassen werden sollen.
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