Wladimir Putin kündigt an, künftig keine “Russen im Ausland” mehr im Stich zu lassen. Die NATO diskutiert bereits intern die Reaktion auf einen Einmarsch Russlands in den baltischen Staaten. Wie würde der Westen in der Realität reagieren, wenn Putin 2015 Estland zu annektieren versucht? Ein Ausblick unseres USA-Korrespondenten.
Washington. Der Kalender zeigt den 3. April 2015. Es ist Karfreitag, als morgens Aufnahmen von über Osteuropa kreisenden Satelliten der USA im Pentagon Alarm auslösen. Ein Kontingent von rund 80 000 russischen Soldaten bewegt sich, begleitet von 1500 Kampfpanzern und schwerer Artillerie, seit 5.45 Uhr früh in breiter Front im Norden und Süden auf die Ostgrenze Estlands zu. Nur 30 Minuten später überlaufen die ersten Brigaden in einer klassischen Zangenbewegung die nur dünn gesicherten Grenzbefestigungen. Der Widerstand, den die überraschten und hoffnungslos unterlegenen estnischen Truppen in der ersten halben Stunde der gewaltigen Übermacht entgegen setzen können, ist nur gering. Schon eine Stunde nach Beginn der Invasion befinden sie sich auf dem Rückzug.
In den westlichen Hauptstädten tun sich die diensthabenden Beamten an dem Osterwochenende zunächst schwer, die politisch Verantwortlichen von der dramatischen Entwicklung zu unterrichten. Bundeskanzlerin Angela Merkel erreicht die Nachricht beim Wandern in Italien. US-Präsident Barack Obama muss seine Golfrunde nach elf Löchern abbrechen. Frankreichs Präsident Francois Hollande ist zunächst unauffindbar, bis Mitarbeiter seinen Motorroller vor einem Pariser Studentenwohnheim orten. In einer ersten Telefonkonferenz zeigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU und NATO zunächst überrascht und enttäuscht. Denn noch am Vortag hatte Moskaus Außenminister Sergei Lawrow angesichts der Truppenansammlung an der russischen Westgrenze von “Routine-Manövern” gesprochen und bei einer Unterredung mit seinem US-Amtskollegen John Kerry empört erklärt: “Niemand hat die Absicht, in Estland einzumarschieren.” Gleichzeitig hatte jedoch ein Kommentator im russischen Staatsfernsehen erneut “massive Anfeindungen und Provokationen der russischstämmigen Mehrheit” in Estland durch eine “kleine nationalistische Minderheit” angeprangert und Konsequenzen gefordert.
Nur 60 Minuten nach dem Beginn des Einmarsches erklärt die estnische Regierung durch ihren NATO-Botschafter in Brüssel offiziell den Beistandsfall und fordert sofortige Militärhilfen durch die Mitgliedsländer an. NATO-Generalsekretär Rasmussen beruft für den frühen Nachmittag eine Sondersitzung der Allianz ein, um das weitere Vorgehen abzustimmen. In allen westlichen Hauptstädten tagen Krisenstäbe der Regierungen. In Berlin kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Kabinett und Koalitionsspitzen überein, zunächst die Haltung der anderen NATO-Mitglieder abzuwarten, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Nach der Sitzung findet sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu einem Interview mit dem ZDF bereit, in dem er Moskau eine “erneute Verletzung des Völkerrechts” vorwirft. Der SPD-Politiker mahnt allerdings vor “übereilten Reaktionen” und stellt fest: “Wenn es einen Fall gibt, wo die Stunde der Diplomatie, der OSZE und der Runden Tische schlagen muss, dann jetzt. Der nun drohende Flächenbrand in Europa muss unbedingt begrenzt werden.”
In deutschen Großstädten finden spontane Demonstrationen statt, auf denen sich Vertreter der Friedensbewegung, Linken, Gewerkschaften und SPD entschieden gegen eine militärische Reaktion auf die Ereignisse im Baltikum aussprechen. “Frieden kann nicht durch den Einsatz von noch mehr Waffen geschaffen werden,” so Gastredner Günther Grass, “das muss ja einmal gesagt werden.” Die Bundestagsfraktion der Linken formuliert in einer Presseerklärung, die Entscheidung Putins, seinen von “Faschisten bedrängten Landsleuten” auch in Estland zu Hilfe zu kommen, sei nach der Übernahme der politischen und militärischen Verantwortung in der Ukraine im Herbst 2014 nur zwangsläufig und folge dem Gesetz der Logik. “Wer Hüh sagt, muss eben auch Hott sagen,” so ein Linken-Sprecher.
SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärt gegenüber der ARD, man dürfe jetzt nicht “Öl ins Feuer gießen”, sondern müsse “mit Besonnenheit” auf diesen “Auswuchs nationalistischer Mächtepolitik” reagieren. Es liege zwar eine Völkerrechtsverletzung vor, doch nicht jede dieser Verletzungen dürfe einen “Automatismus in der Reaktion” hervorrufen. Eine deutsche Beteiligung an einer NATO-Militäraktion müsse deshalb “ernsthaft in Frage gestellt” werden. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder sagt, er sei mit Helmut Schmidt einer Meinung, dass man nun nicht “in die falschen Reflexe des Kalten Krieges” zurückfallen dürfe. Zudem könne man Putins historische Interessen in Estland und Bedenken, was eine Unterdrückung der Russen dort angehe, “zumindest nachvollziehen.” Und schließlich habe ja auch Gorbatschow die deutsche Wiedervereinigung akzeptiert, so Schröder.
In der Talkshow von Günter Jauch erklärt am Abend der außenpolitische Experte und Journalist Peter Scholl-Latour: “Was wir hier sehen, ist doch eine ganz ernsthafte Krise. Und mit der sollte sich in erster Linie der UN-Sicherheitsrat und niemand anders befassen.” Die Bundesregierung habe diese Krise allerdings mitzuverantworten, weil sie mit der Entsendung eines Schiffes in die Ostsee und der Bereitstellung von sechs “Eurofighter”-Kampfjets für die Luftüberwachung im Baltikum schon 2014 Putin “ohne Not provoziert und militärisch wie emotional bedrängt” habe. “Der Westen hat durch seine NATO-Politik förmlich Russland nach Estland hinein getrieben,” so der Autor. Auch wirke, so Scholl-Latour, ganz deutlich immer noch der seelische Schaden nach, den Russland durch den demoralisierenden NATO-Nachrüstungsbeschluss im Jahr 1979 erlitten habe. Das alles werde er übrigens in seinem neuen Buch “Wladimir – die Leiden eines Unverstandenen” behandeln.
In Washington tritt unterdessen US-Präsident Obama im East Room des Weißen Hauses vor die Kameras. “Wir, verurteilen diesen beispiellosen Akt der Aggression aufs Schärfste,” so Obama, “und bereiten eine Antwort darauf vor, die Moskau Schmerzen bereiten wird. Mr. Putin, ziehen Sie diese Truppen ab!” Er hege jedoch weiter Hoffnung, den Konflikt durch schnelle diplomatische Konsultation beilegen zu können, und habe bereits Außenminister Kerry mit Sondierungen beauftragt. “Moskau muss wissen, dass es immer noch einen Ausweg gibt,” so Obama. Über eine Beteiligung der USA an einer militärischen Reaktion der NATO werde aber letztendlich – wie in der Syrien-Frage – auch der Kongress mitentscheiden müssen. Obama räumte ein, dass man bei der Verhängung weiterer Reise- und Finanzbeschränkungen gegen Moskau nach der Total-Annexion der Ukraine vermutlich nicht weit genug gegangen sei. Auch sei es wohl ein Fehler gewesen, 2014 alle Gas-Schulden der Ukraine übernommen zu haben und so Schwäche gezeigt zu haben. Wichtig sei jedoch, die Gesprächskanäle “weiter offen zu halten.” Und dies gelte damals wie heute.
Auf die Frage eines CNN-Reporters, ob der Beistandspakt der NATO nicht automatisch Mitgliedsländer zur Verteidigung Estlands zwinge, erklärt der US-Präsident: “Ich habe mich in dieser zentralen Frage eng mit Bundeskanzlerin Merkel, Präsident Hollande und Premierminister Cameron abgestimmt. Ich bin – als gelernter Verfassungrechtler – nach Studium des Artikels 5 zur Auffassung gekommen, dass es sich um eine “Kann”-Bestimmung handelt und jedes Mitgliedsland somit entscheiden kann, welchen Beitrag es leisten möchte”. Dies sei auch die Auffassung von Merkel und Cameron. Lediglich Hollande sehe es anders. “Doch wir sind sicher, dass er bald auch unsere Ansicht teilen wird.” Obama betont, er sei als Präsident angetreten, um die Kriege im Irak und Afghanistan zu beenden und nicht, um das Land in neue militärische Abenteuer zu stürzen. Zudem gebe es keine “klaren und direkten Interessen der USA” in Estland. Deshalb werde er dem Kongress empfehlen, neben weiteren Sanktionen auch ein Hilfspaket mit lediglich “nichttödlichen Mitteln” zu verabschieden, das unter anderem die Lieferung von Verbandsmaterial und tausender “MRE”-Essensrationen mit US-Spezialitäten wie Cheese-Burgern und pikanten Schweinerippchen an Estland vorsieht. Um das Leben amerikanischer Soldaten nicht zu gefährden, sei ein Abwurf dieser Beistandsgüter aus großer Höhe geplant: “Wir haben aus der Geschichte gelernt und sehen hier die Berliner Luftbrücke als Vorbild. Nur werden wir eben nicht – wie damals in Tempelhof – landen, was auch die Einsatzzeit für unsere Piloten und das Risiko verkürzt. “Das sehe ich als verantwortungsvolle Politik,” so Obama. Die estnische Bevölkerung solle sich während der Abwürfe der Pakete möglichst im Keller aufhalten, so Obama, um Verletzungen zu vermeiden.
In einer Ansprache an die deutsche Nation im Anschluss an eine Sondersendung der Tagesschau erklärt wenig später Bundeskanzlerin Merkel, die Koalition sei – in enger Abstimmung mit Washington und London – überein gekommen, die Bundeswehr ebenfalls aus diesem grossflächigen Konflikt “militärisch herauszuhalten”. Nach Worten Merkels wäre dies “Neuland, das hier doch niemand wirklich betreten will.” Zudem befänden sich die meisten deutschen Soldaten und Offiziere wegen der Feiertage in Urlaub, die Bundeswehr sei nur “ganz bedingt einsatzfähig”. Auch sei es aufgrund der deutschen Geschichte “unverantwortlich”, deutsches Militär ausgerechnet gegen russische Truppen in Marsch zu setzen. Die Gefahr von Verlusten und einer Eskalation sei “riesengroß”. Zudem sei die Bundeswehr als “Friedensheer” konzipiert. Und niemand könne schließlich wollen, dass die Russen irgendwann wieder vor Berlin stünden. Deshalb seien nun Entspannung und Neutralität das Gebot der Stunde. Die Bundeskanzlerin verweist dann ebenfalls auf die “doch einigermaßen unklare Sprache” im NATO-Beistandspakt, die den Mitgliedsländern durchaus Ermessensspielraum gebe. “Wir wollen deshalb mit aller unserer Kraft versuchen, Estland in dieser tragischen Notlage durch Hilfsgüter wie Medikamente, Decken und Bahren zum raschen Abtransport der Toten und Verwundeten unter die Arme zu greifen,” so Merkel.
Nur 30 Minuten nach der Merkel-Rede bietet die Regierung in Tallinn nach massiven Verlusten dem Kreml einen Waffenstillstand und eine Verfassungsreform an, die eine Ausweitung russischer Verantwortung und Kontrolle sowie einen Neutralitätspakt vorsieht, der eine künftige NATO-Anbindung strikt ausschließt. Kurz vor Mitternacht tritt dann Wladimir Putin strahlend im Kreml vor die Kameras. “Wir haben das Leiden unserer Landsleute in Estland beenden und sie vor dem Amoklauf nationalistischer Extremisten retten können,” sagt Putin, “Mütterchen Russland läßt seine verloren geglaubten Töchter nicht im Stich.” Und er fügt an: “Estland wird, wie auch andere Länder in dieser Region, für uns immer von höchster historischer Signifikanz sein. Im übrigen mache ich mir große Sorgen, was die jüngsten Nachrichten aus Litauen und Lettland angeht.”
Eine Vision. Hoffentlich nur eine Vision . . .
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