Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien dürfen sich ab Januar überall in der EU niederlassen. Länder wie Deutschland und Großbritannien befürchten eine wachsende Armutsmigration. Ist jetzt das Recht auf Freizügigkeit in Europa in Gefahr?
EU-Migranten ruhig benachteiligen
In der Debatte um die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit herrscht in Ländern wie Großbritannien und Deutschland Furcht vor einer Überlastung der Sozialsysteme.
Chefkolumnist Gideon Rachman empfiehlt in der konservativen Tageszeitung Financial Times , mit dem europäischen Kernprinzip zu brechen, dass alle EU-Bürger gleich behandelt werden müssen:
Die Vorstellung, dass eine nationale Regierung keinen Unterschied zwischen ihren eigenen Bürgern und jenen aus anderen EU-Staaten machen soll, ist aus Brüsseler Sicht wesentlich. In großen Teilen der EU scheint es aber immer noch selbstverständlich zu sein, ein bisschen mehr Solidarität mit den eigenen Staatsbürgern als mit anderen Europäern zu empfinden.
… Änderungen bei den Sozialhilfe-Regelungen, die Ländern mehr Spielraum verschafften, ihre eigenen Bürger zu bevorzugen, würden es leichter machen, sich beim Ringen um das wichtigere Prinzip der offenen Grenzen durchzusetzen. Warum also nicht?
Migrationsdebatte: Tusk rügt Cameron
Der polnische Premier Donald Tusk hat den Umgang Großbritanniens mit osteuropäischen Arbeitsmigranten kritisiert. Er kündigte ein Telefonat mit seinem Kollegen David Cameron an, der Sozialleistungen für Einwanderer kürzen will. Für einige Kommentatoren will Cameron mit populistischen Parolen von innenpolitischen Problemen ablenken. Andere betonen, dass die Briten wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres Landes tatsächlich beunruhigt sind.
Von Freizügigkeit profitieren Ost und West
Als haltlosen Populismus betrachtet die liberale Tageszeitung Eesti Päevaleht die Aussagen David Camerons zu Arbeitsmigranten aus Osteuropa:
In Einzelfällen kann man sicherlich sowohl Beispiele finden, die für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa sprechen, als auch solche, die dagegen sprechen. Politische Entscheidungen müssen sich aber vom Gesamtbild herleiten. Untersuchungen beweisen, dass Einwanderer der britischen Wirtschaft mehr geben als nehmen. Eigentlich sollten eher die osteuropäischen Politiker gegen die Freizügigkeit kämpfen, da der Gewinn für diese Länder nur mittelbar ist. Unser Gewinn kommt, wenn die Auswanderer einen Teil des Verdienstes nach Hause schicken oder wenn sie irgendwann später mit Erfahrungen und Ersparnissen nach Hause zurückkehren. … Camerons Kampagne mag ihm kurzfristig innenpolitisch nützen, auf lange Sicht ist sie aber unbegründet und ungerecht.
Sündenbock für innenpolitische Probleme
Camerons Plan, das Kindergeld für die Migrantensprösslinge abzuschaffen, die weiter im Heimatland leben, ist reiner Populismus, mit dem er von innenpolitischen Problemen ablenken will, kritisiert die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza:
Denn er hat überhaupt nicht erwähnt, dass einer Studie des Londoner University College zufolge Bürger aus der EU, Norwegen, Island und Liechtenstein der britischen Wirtschaft zwischen 2001 und 2011 Steuereinnahmen in Höhe von 22 Milliarden Pfund [26 Milliarden Euro] gebracht haben. Dabei ist diese Summe um 34 Prozent höher als die Mittel, die der Staat für sie ausgegeben hat, zum Beispiel in Form von Sozialleistungen. … Dass die Migranten tatsächlich ein riesiges Loch in den Haushalt reißen, kann also nicht der Grund für die Attacken von Cameron sein. Er will nur zeigen, dass er gegenüber Fremden hart auftreten kann, die von den Briten oft als Schuldige für viele Probleme hinhalten müssen: etwa für die Arbeitslosigkeit oder die langen Warteschlangen beim Arzt.
Angst vor Massenzuwanderung verständlich
Mehr als drei Viertel der Briten wollen laut dem aktuellen British Social Attitudes Survey, einer Studie zur sozialen Einstellung im Land, dass die Einwanderung in ihr Land zurückgefahren wird. Der Kolumnist Iain Martin zeigt dafür in der konservativen Tageszeitung The Daily Telegraph Verständnis:
Viele können nicht verstehen, warum ein Land, dem das Geld ausgegangen ist und das sehr viele arbeitslose junge Leute hat, sich dazu entscheiden sollte, so viele Arbeitskräfte zu importieren. Das Sozialsystem baut auf der – wenn auch in gewisser Weise falschen – Vorstellung auf, dass wir Leistungen verdienen, weil wir oder unsere Eltern etwas beigetragen haben. Da fällt es schwer zu akzeptieren, dass Neuankömmlinge Steuergutschriften oder Sozialleistungen erhalten. Das untergräbt das Vertrauen und die Vorstellung der meisten vom Wohlfahrtssystem der Nachkriegsära. … Wir brauchen Zuwanderung, aber das bedeutet nicht, dass ein riesiger, unregulierter Zustrom vernünftig oder wünschenswert ist.
EU-Freizügigkeit funktioniert nicht mehr
Die Debatte über die Migration von Bulgaren und Rumänen nach Westeuropa geht auch auf einen Konstruktionsfehler im Konzept der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit zurück, ist der Migrationsexperte Dainius Paukštė im Portal Delfi überzeugt:
Der freie Personenverkehr (so, wie ihn die EU-Gründer verstanden haben) ist nur zwischen Ländern mit einer ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklung möglich. Die Aufnahme von wirtschaftlich schwächeren Ländern hat das Prinzip der Personenfreizügigkeit verzerrt, denn danach hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine Massenmigration im wahrsten Sinne dieses Wortes begonnen, die nichts mit der EU-Personenfreizügigkeit zu tun hat. Und in die reicheren EU-Länder kommen ja nicht nur die Leute aus neuen EU-Mitgliedstaaten, sondern auch aus Drittländern. … Es ist also offensichtlich, dass wir uns auf neue Herausforderungen und auf Debatten über eine neue Immigrationspolitik innerhalb der EU vorbereiten müssen.
Ärzte werden Bulgarien verlassen
Nach der vollständigen Öffnung des EU-Arbeitsmarkts für Bulgaren und Rumänen wird Bulgarien Probleme haben, seine Ärzte und Krankenschwestern im Land zu halten, befürchtet die Tageszeitung 24 Chasa:
In England, Frankreich und Deutschland bekommen Ärzte bis zu 20 Mal mehr Gehalt. Anders gesagt: Sie können dort in zwei Jahren soviel verdienen wie hier in 40 Jahren. Da gibt es wohl kaum noch Ärzte und Krankenschwestern, die nicht ans Auswandern denken. Für die Bulgaren heißt das, dass sich die Kosten für Gesundheit auf westeuropäisches Niveau bewegen müssen, was auf eine höhere Selbstbeteiligung oder höhere Krankenkassenbeiträge hinauslaufen wird. Sonst muss man als Bulgare in Zukunft nach England, wenn man in seiner eigenen Sprache behandelt werden will. Vorausgesetzt, man hat das nötige Kleingeld. Die Erhöhung der Arztgehälter in Bulgarien ist unausweichlich und zeichnet sich als die erste reale Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab
Wolfgang Scheida schmerzt die Debatte über Armutseinwanderung
In Deutschland bricht nach Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren die Debatte über eine mögliche “Armutseinwanderung” nicht ab. Wolfgang Scheida, selbst Spätaussiedler aus Rumänien und Ressortleiter bei der konservativen Welt am Sonntag, findet das Gerede unerträglich:
Als in den 90ern die rumänischen Spätaussiedler – auch ich bin einer – nach Deutschland kamen, wurden sie hier gut aufgenommen. Auch aus wahltaktischen Gründen, keine Frage. Viele ‘wanderten’ erst in die Sozialsysteme ein, konnten dann aber im Laufe der Zeit ihr Leben selbst gestalten und finanzieren. Viele haben ihre Chance auf eine bessere Existenz genutzt. Wir haben hart gearbeitet, Sprachkurse belegt, studiert, uns integriert. … Es gibt wenig, das so schmerzhaft ist, wie Teil einer Familie zu sein, aber immer am Katzentisch essen zu müssen. So fühlt man sich als ‘Rumäne und Bulgare’. Wir gehören zwar zur EU, man will mit uns Geschäfte machen, aber man schreit zetermordio, wenn wir uns in Europa frei bewegen und arbeiten wollen. Und ja, einige werden nicht arbeiten wollen. So wie auch einige gebürtige Deutsche nicht. Die sollten wir aushalten. Daran wird dieses Land nicht zerbrechen.
Cameron macht sich düstere Stimmung zunutze
Mit den populistischen Kampagnen gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen versuchen die Politiker in den alten EU-Mitgliedsländern ihre eigene Unfähigkeit zu verbergen, ärgert sich die Wochenzeitung Dilema Veche:
Der [britische] Premier Cameron hat einen Verbündeten: die düstere Stimmung, die gerade in Europa herrscht und die zwei Schuldige für die Krise ausmachen will – den Euro und die Einwanderung. Die Politiker haben derzeit großes Interesse daran, alle Schuld auf diese gesichtslosen Sündenböcke zu schieben. Sie haben ja nicht einmal ihre Fehler eingestanden, als sie entschieden hatten, auf Kosten der Bürger das Finanzsystem zu retten! Der Euro hat der großen Krise von 2011/2012 getrotzt, nun ist die Zuwanderung für alle Übel in der EU der Schuldige vom Dienst. Und ein guter Trumpf für Premier Cameron und seine Verhandlungen mit der EU.
Europa leidet an Schizophrenie
Dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit bei Briten und Deutschen Panik auslöst, hält die linksliberale Tageszeitung La Repubblica für schizophren:
Während Lettland mit einem Feuerwerk den Beitritt zur Währungsunion feiert, löst die Aufhebung der Einschränkungen von Schengen im ‘alten’ Europa eine Welle der Angst und Intoleranz aus. Der Solidaritätssinn, der die Errichtung dessen ermöglichte, was die EU-Verträge als ‘Schicksalsgemeinschaft’ definieren, schwindet. … Wer wird 2014 gewinnen: der Optimismus von Riga oder die grimmige Miene derer am Flughafen Heathrow, die die Invasion der Barbaren fürchten, die ausbleiben wird? Die beiden Seiten der schizophrenen Union stehen sich seit sechs Jahren gegenüber, seit dem Beginn jener Krise, die ausnahmslos alle Gründungswerte zur Disposition gestellt hat. Die einzig mögliche Vorhersage ist, dass die Schizophrenie auch im neuen Jahr anhalten wird. Die entscheidende Schlacht im langen Krieg Europas mit sich selbst ist noch nicht geschlagen.
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