Die Kinderjahre sind vorbei: Was erwartet die baltischen Länder ohne EU-Hilfsgelder?
Lettland

Die Kinderjahre sind vorbei: Was erwartet die baltischen Länder ohne EU-Hilfsgelder?

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Wie könnte es den baltischen Ländern ergehen, wenn sie keine Nahrung aus der europäischen Finanz-„Milchflasche“ mehr bekommen?

Unter einem Geldregen

In Brüssel werden aktuell Finanzpläne für die Jahre 2014 bis 2020 erstellt. In dieser Zeit sollte allein Lettland laut Informationen aus offenen Quellen etwa 4,5 Milliarden Euro (3000 Euro für jeden Einwohner) aus den europäischen Strukturfonds erhalten. Nach Eurostat-Angaben beliefen sich die Finanzhilfen für die baltischen Länder in den letzten fünf Jahren auf etwa 3,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Dabei legten die Finanzspritzen für Litauen und Lettland um 50 bis 100 Prozent jährlich zu. Die größten Geber waren bzw. sind der Europäische Sozialfonds (ESF), der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (ERAF) und der Kohäsionsfonds (KF).

Auffallend ist: Als die drei baltischen Länder 2004 zur Europäischen Union beitraten, beliefen sich ihre Pflichtbeiträge zur EU-Schatzkammer auf höchstens 150 bis 300 Millionen Euro. Mit anderen Worten erhielten sie von Brüssel sechs oder sieben Mal mehr, als sie abgegeben haben.

Der lettische EU-Abgeordnete Andrej Mamykin bestätigte: „Die Abhängigkeit aller drei baltischen Länder von den EU-Geldern ist fatal. Aber die finanziell schwächste von den drei ‚Schwestern‘ ist Lettland, dessen Haushalt 2017 bei acht Milliarden Euro liegt. Davon bekam es eine Milliarde Euro von der EU. Das bedeutet, dass jeder achte Euro im lettischen Haushalt ein Geschenk der EU ist. Nächstes Jahr wird die Abhängigkeit von der Europäischen Union dieselbe bleiben: Der Haushalt wurde auf 8,7 Milliarden Euro festgelegt. 1,2 Milliarden Euro werden dabei die EU-Mittel ausmachen.“
Die EU-Hilfe zu bekommen, ist rein technisch ziemlich leicht: Man muss nur ein entsprechendes Projekt geschickt erstellen und Brüssel vorlegen – und schon sind die Gelder da. „Da gibt es jede Menge von Programmen: von der Ausstattung von Laboren in Universitäten und dem Asphalteinbau bis zu Programmen zur Mobilitätsförderung der Arbeitslosen, damit diese auf den Arbeitsmarkt zurückkehren“, erläuterte Mamykin. „Es werden Hunderte Programme von Dutzenden Hilfsfonds finanziert. Es werden Grenzschutzsoldaten und Journalisten ausgebildet, neue Abfalltrennungsstationen gebaut; es wird gegen die Kinderarmut gekämpft; es werden Anlagen zur Schmuggelbekämpfung angekauft und Systeme zur Verwaltung im staatlichen Wirtschaftssektor verbessert; es werden Unternehmer beim Übergang zur ‚grünen‘ Energie unterstützt, Käufer von Elektrofahrzeugen belohnt, Bauern für die Sanierung von Ackerböden mitfinanziert usw. Es ist ja leichter, die Bereiche zu nennen, wo die EU uns nicht hilft“, so der Abgeordnete.

Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden

Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass diese Finanzhilfen bald gestrichen werden. Denn die EU-Haushaltsperioden werden für jeweils sieben Jahre kalkuliert, und die aktuelle siebenjährige Frist laufe 2020 ab.

„Einige Programme werden in Lettland bis 2024 laufen, weil sie später beginnen werden oder von Anfang an für zehn Jahre bestimmt waren bzw. sind. Wie es weiter geht, weiß niemand“, erläuterte Mamykin weiter. „Die Kürzung der Finanzhilfen lässt sich auf zwei Momente zurückführen. Erstens auf den Brexit. Ich traf mich vor kurzem mit dem EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger, und er nannte eine Zahl von zwölf Milliarden Euro jährlich – diese Mittel werden der EU nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs fehlen. Denn bei einem Rückgang der Einnahmen des EU-Haushalts werden auch die Ausgaben reduziert. Und jeder EU-Staat, auch die baltischen Länder, werden weniger Geld bekommen.“

Nach seinen Worten wird jedes EU-Land laut Expertenprognosen bestenfalls um 150 oder 200 Millionen Euro weniger bekommen.  Deutschland wäre bereit, vier von den ausfallenden zwölf Milliarden Euro zu kompensieren. „Es ist aber offensichtlich, dass keines von den ‚großen‘ EU-Ländern bereit ist, den ausfallenden britischen Beitrag auszugleichen – weder Frankreich noch Spanien, noch Italien“, so der Parlamentarier.
Es gebe aber auch einen anderen Grund für die Kürzung der Finanzhilfen: Die baltischen Länder gelten inzwischen als „erwachsene“ EU-Mitglieder. „Es sind immerhin 13 Jahre vergangen, seitdem sich Litauen, Lettland und Estland der Union angeschlossen haben. Jetzt sagen die Beamten in der EU-Kommission: ‚In diesen Jahren haben wir in die Wirtschaften der baltischen Länder Dutzende Milliarden Euro gepumpt. Ihr habt diese Gelder genommen und jedes Mal beteuert, das Leben wäre besser geworden. Jetzt solltet Ihr selbst Geber werden und Ländern wie Bulgarien, Rumänien und Kroatien helfen, die nach euch EU-Mitglieder geworden sind.‘
Und am Horizont zeichnet sich der EU-Beitritt der westlichen Balkanländer ab. Selbst Juncker räumte in einer seiner jüngsten Reden ein: Die ‚Kindheit‘ sei vorbei, und es sei für die baltischen Länder an der Zeit, erwachsen zu werden und Verantwortung für die gemeinsame Union zu übernehmen“, betonte Mamykin.

Auch in Litauen ist die Situation nicht besonders positiv. Der Abgeordnete des Stadtrats von Klaipėda  Wjatscheslaw Titow sagte in einem Interview mit RIA Novosti:

„Die aktuelle Entwicklung Litauens, wie auch aller baltischen Länder, wird großenteils von den EU-Subventionen geprägt. In den letzten Jahren bekam die Republik 1,6 bis 1,9 Milliarden Euro jährlich. In Klaipėda wird der Infrastruktur-Haushalt so verabschiedet, dass die EU 85 Prozent der Mittel für den Bau von Schwimmbecken bereitstellt, während sich die regionalen Behörden nur zu den restlichen 15 Prozent daran beteiligen. Für manche Projekte steigen für die 85 Prozent die EU und der Staatshaushalt gleichermaßen ein, und die restlichen 15 Prozent stellen wieder die regionalen Behörden zur Verfügung. Außerdem wird auch die Landwirtschaft in den baltischen Ländern von der EU dotiert. Wer beispielsweise einen Hektar Ackerboden hat und jedes Jahr ihn mäht, der bekommt etwa 100 Euro pro Jahr. Man mit völliger Sicherheit behaupten, dass den baltischen Ländern schwere Zeiten bevorstehen, wenn sie keine Subventionen mehr erhalten – sie müssen lernen, mit eigenen Mitteln zu leben.“

Auch der Co-Vorsitzende der Partei „Russische Union Lettlands“, Miroslaw Mitrofanow, der zugleich Assistent der EU-Abgeordneten Tatjana Schdanok ist, zeigte sich pessimistisch:

„Die aktuelle Finanzierungsordnung des Kohäsionsfonds wird sich wesentlich verändern. Früher investierten die ‚alten‘ EU-Mitglieder ihre Gelder in diesen Fonds, und sie wurden dann für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten in den ‚neuen‘ Mitgliedsländern ausgegeben. Das Ziel ist, die Kluft zwischen dem Entwicklungsniveau der Infrastruktur in den ‚alten‘ und ‚neuen‘ EU-Ländern auszugleichen. Aber diese Gelder bekommen nicht nur Staaten, sondern auch einzelne arme Regionen, beispielsweise in Spanien, Italien oder Griechenland“, so Mitrofanow.

Das lettische BIP entsteht nach seinen Worten zu etwa 20 Prozent auf Kosten ausländischer Hilfen. „Natürlich wäre es sehr schmerzhaft für den Staat, diese Gelder zu vermissen. Das Finanzministerium versucht gerade, die Bevölkerung zu beruhigen: Vor kurzem wurde erklärt, dass in der nächsten EU-Haushaltsplanungsfrist die Hilfen für unser Land nur um 15 bis 30 Prozent reduziert werden“, erläuterte der Experte.

Er zeigte sich überzeugt, dass die baltischen Länder auch nach 2020 EU-Gelder erhalten werden, allerdings nicht umsonst, sondern als langfristige Kredite. „Die EU erlebt gerade eine Stagnation, und es gibt demnächst keine großen Infrastrukturprojekte, die große Investitionen von ‚billigen Geldern‘ erfordern würden, wovon es in der EU aktuell viele gibt. Unter solchen Bedingungen gilt als beste Investition die Kreditvergabe gegen Garantien von staatlichen oder regionalen Behörden“, so Mitrofanow.

Er ergänzte, dass in den kommenden Jahren eine neue wichtige Veränderung möglich wäre: Projekte, die aus europäischen Strukturfonds mitfinanziert werden, werden künftig viel strenger bewertet werden. „Bislang gab es in diesem Bereich viele Freiheiten. Für Projekte, die weniger als 200 Millionen Euro erfordern, zeigte Brüssel überhaupt kein Interesse und überließ diese Aufgabe den nationalen Regierungen. Aber jetzt werden alle Projekte, die eine europäische Mitfinanzierung beanspruchen, nicht nur totalen Kontrollen unterzogen, sondern werden auch miteinander konkurrieren müssen“, erinnerte der Politiker.
„Zum Beispiel wird Deutschland 50 Projekte zur Infrastrukturentwickelung präsentieren – und Lettland wird fünf solche Projekte vorstellen. Natürlich werden solche Projekte bevorzugt, die gründlicher vorbereitet werden (und dafür ist die Beteiligung von hochklassigen Experten nötig), wo die staatliche Mitfinanzierung mit geringeren Korruptionsrisiken möglich ist. Darüber hinaus kann die EU-Kommission jederzeit die Effizienz ihrer Investitionen überprüfen, und die Finanzierung von bereits gebilligten Projekten könnte schon während ihrer Umsetzung gestoppt werden, falls sich der jeweilige Staat weigern sollte, an gemeinsamen EU-Programmen teilzunehmen – wie beispielsweise am Programm zur Verteilung der Flüchtlinge unter allen EU-Ländern. Denn die baltischen Länder wollen ja keine Einwanderer aufnehmen.“

Vor dem „Finanzsturm“

Andrej Mamykin zufolge gibt es in den baltischen Ländern aktuell etliche Programme, die ohne die EU unmöglich zustande kommen können, die zu 85 Prozent der entsprechenden Kosten übernimmt. „Es ist klar, dass wegen der Kürzung oder vollständigen Einstellung der Finanzierung manche Programme einfach geschlossen werden müssten“, so der EU-Abgeordnete.

Dabei wissen die Behörden von den traurigen Perspektiven, ergänzte er. „Aber da gehen die baltischen Länder unterschiedlich vor. In Estland wurde beispielsweise schon vor längerer Zeit das anspruchsvolle Ziel gestellt, ein ‚Digitalzentrum‘ der EU zu werden. Und deswegen bekam Estland von der EU-Kommission den Posten des Kommissars für den einheitlichen Digitalmarkt (ihn hat der frühere estnische Premier Andrus Ansip übernommen). Die Esten haben bereits nicht nur den weltweit ersten, sondern auch den effizientesten ‚digitalen‘ Staat gebildet: Von einer polizeilichen Anzeige bis zur Unterzeichnung der Gesetze durch den Präsidenten erfolgt alles online.

Sie waren so weitsichtig, dass sie sich vor fünf oder sieben Jahren auf die Wirtschaftskrise gefasst machten, als sie den staatlichen Speicherfonds gründeten. In Lettland ist die Situation leider ganz anders. Vorerst bekommen wir noch EU-Gelder – und vereinnahmen sie auch, wobei es manchmal zu Korruptionsskandalen kommt. Aber es gibt immer noch keine strategischen Ansichten zur künftigen Entwicklung des Landes“, so der EU-Abgeordnete.

Die Situation ist nach seinen Worten erniedrigend:

„27 Jahre nach dem Ausruf der Unabhängigkeit muss mein Land fast buchstäblich betteln.“ Außerdem verwies Mamykin darauf, dass begabte junge Menschen massenweise in die westeuropäischen Länder ausreisen würden, während westliche Investoren, die bereit wären, ihr Geld in Lettland anzulegen, oft verstünden, dass in diesem Land niemand ihr Geld erwarte.

Allerdings sind manche Menschen nicht so pessimistisch und glauben, dass die lettische Regierung doch an einem Fundament für das Leben nach dem Wegfall der europäischen Hilfsgelder arbeitet. Miroslaw Mitrofanow zufolge wird gerade eine Steuerreform vollzogen; es wird das Personal von staatlichen Einrichtungen reduziert, wie auch die Sozialausgaben (obwohl die Militärausgaben nur ständig aufgestockt werden). „Bald wird der Druck auf die regionalen Behörden ausgebaut, damit die Steuern, die sie an die staatliche Schatzkammer überweisen, wachsen. Besonders schwer wird es für die Behörden von Riga und der Region Riga, die zu den reichsten gehören. Außerdem wurde bereits ein Plan zur Schließung von fast 50 Prozent aller Schulen hierzulande veröffentlicht“, resümierte Mitrofanow.
Ob aber die Behörden genug Zeit haben, um das lettische Finanzsystem umzubauen, ist fraglich.

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