Und der Gewinner ist: Russland
Wie Moskau die Lage für sich zu nutzen weiß, beobachtet Russland-Korrespondent Anton Aleksejev in Eesti Päevaleht:
„Minsk hat den Migrationskrieg mit dem Westen angefangen, wohl ohne Moskau zu fragen. Aber man hat Moskau damit ein Geschenk gemacht. Das russische Außenministerium kann nun lautstarkes Mitleid mit den Flüchtlingen äußern und Europa der Nichtaufnahme beschuldigen. Der Zynismus ist offensichtlich. Die Flüchtlinge bewegen sich gen Westen und nicht nach Osten. Nimmt der Westen sie auf, umso besser. Tut er es nicht, bleibt es ein Problem für Lukaschenka. Sollte es zum akuten Konflikt zwischen Grenzsoldaten von Belarus und Polen kommen, gäbe dies Moskau einen hervorragenden Vorwand, seinem Verbündeten beizustehen. Zum Beispiel mit Truppeneinzug nach Belarus.“
Eesti Päevaleht (EE) | 11. November 2021
Ausdehnung auf Estland nicht in Russlands Interesse
Redakteur Krister Paris erörtert in Eesti Päevaleht, ob Putin vorhaben könnte, die Migrationskrise auch an die estnische Grenze auszuweiten, wie manche Analytiker befürchten:
Es ist schwer, einen logischen Beweggrund zu finden, warum der offiziell neutrale Schiedsrichter [Russland] zum aktiven Spieler werden sollte. Jetzt sind die Flüchtlinge das Werk von Aljaksandr Lukaschenka. Sollte Russland den Wunsch haben, die Spannung soweit zu erhöhen, dass es die Front ausdehnt? Nur um Estland auch unter Druck zu setzen? Je mehr westliche Verbündete in den Konflikt einbezogen werden, desto einheitlicher die Antwort, die aus der Sicht von Belarus sowieso schon unangenehm einheitlich ist. Auf einmal zählt nicht mehr, dass Polen mit dem Rest von Europa einen Wertekonflikt hat.
Eesti Päevaleht (EE) | 12. November 2021
EU muss hart bleiben gegenüber Minsk
Angesichts der Eskalation der Krise an der Grenze von Belarus rügt De Standaard das zynische Machtspiel von Lukaschenka und seine Drohung, die Gaslieferungen zu stoppen:
„Es ist undenkbar, dass die EU Zugeständnisse macht an einen gnadenlosen Menschenrechtsverletzer wie Lukaschenka. Wenn es wirklich zu einer Konfrontation kommt, muss die Union hart bleiben. Die Chance ist groß, dass Belarus dann schnell einknickt, denn das Land hätte wenig Vorteile, wenn es seinen Status als Transitland für Gaslieferungen verlieren würde. Das gilt übrigens auch für Putin. Wahrscheinlich liegt ihm genau so viel an den Einkünften aus dem Gasgeschäft wie Europa an pünktlichen und zuverlässigen Lieferungen des Brennstoffes.“
De Standaard (BE) | 12. November 2021
Problematische Achse Berlin-Moskau
wPolityce hat Sorge, dass Deutschland einen Deal mit Russland auf Kosten der Ukraine aushandelt:
„Es gibt Anzeichen dafür, dass der von Lukaschenka – und indirekt auch von Putin – ausgeübte Druck zu wirken beginnt. Am Donnerstag hat Bundeskanzlerin Merkel den Kreml angerufen, was ein strategischer Fehler ist, weil es von Moskau und von Minsk als Zeichen der Schwäche und der Bereitschaft zu Zugeständnissen interpretiert werden wird. Freitag gab es ein weiteres Telefongespräch, was auf laufende Verhandlungen hindeutet. Aus dem Kommuniqué des Kremls geht eindeutig hervor, dass es auch um Fragen im Zusammenhang mit der Ukraine ging. … Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das strategische Wettbieten bereits begonnen hat.“
wPolityce.pl (PL) | 12. November 2021
Der Energiekrieg ist ausgebrochen
La Vanguardia fragt sich, wie groß Lukaschenkas Einfluss auf Europas Energiepolitik ist:
„Die gestrige Drohung, die Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland wegen des Flüchtlingsstreits zu unterbrechen, scheint Macron [in der Debatte um eine Stärkung der Atomkraft] Recht zu geben. … Deutschland leidet mehr denn je unter seiner Abhängigkeit von russischem Gas. … Aber so einfach ist es nicht. Frankreich hatte es gestern mit einer Gruppe von EU-Partnern zu tun (Deutschland selbst, Dänemark, Österreich, Luxemburg und Portugal), die beschlossen hat, dass die Kernenergie keine grüne Option ist und daher für EU-Finanzierungen nicht in Frage kommt. Der Energiekrieg ist auf dem Gipfel von Glasgow mit aller Schärfe entbrannt.“
La Vanguardia (ES) | 11. November 2021
Es gibt Regeln, an die sich Europa halten muss
Geflüchtete haben Rechte, ruft Der Spiegel in Erinnerung:
„Diese Rechte sind in der Flüchtlings-, der Menschenrechts-, der Kinderkonvention festgeschrieben. Sobald ein Migrant europäischen Boden betritt, hat er das Recht, in ebenjenem Land einen Asylantrag zu stellen. Die europäischen Regeln sind klar. Man muss sie nur befolgen und ihre Befolgung anmahnen. Die europäische Solidarität gebietet es, dass Erstaufnahmeländer nicht allein gelassen werden. Denkbar wäre, auch jene Menschen, die noch nicht auf europäischem Boden sind, aus dem belarussisch-polnischen Niemandsland zu holen und sie ihre Anträge stellen zu lassen. Zügig zu klären, wer bleiben darf und wer nicht. Kontrolle auszuüben, ist nicht inhuman. Menschen in der Kälte einem ungewissen Schicksal zu überlassen, ist es schon.“
Der Spiegel (DE) | 10. November 2021
Imagepolitur für die Machthaber
Der polnischen Regierungspartei PiS kommt die Migrationskrise sehr gelegen, analysiert Nowaja Gazeta:
„Ihre Zustimmungsraten waren wegen des Abtreibungsverbots stark gesunken. … Aber nun kann die PiS gegenüber den Forderungen der Opposition bezüglich der Rechte von Migranten und der Notwendigkeit, sie hereinzulassen, wieder punkten. Der Tod einer jungen Frau, der in der Gesellschaft schon als Mord bezeichnet wurde, ist in den Hintergrund gerückt, ebenso wie die Repressionen in Belarus. Es gibt sogar Verschwörungstheorien über eine Absprache zwischen Lukaschenka und Duda. … Kurzum, alle profitieren, außer den Migranten, den Grenzsoldaten und dem belarusischen Volk.“
Nowaja Gaseta (RU) | 10. November 2021
Polen lassen sich nicht einlullen
Die polnischen Bürger fallen nicht auf die Propaganda der Regierung herein, beobachtet Interia:
„Interessanterweise scheinen sich die Polen in diesem Schlamassel einen bemerkenswert scharfen Verstand bewahrt zu haben. Sie glauben den Politikern nicht, die behaupten, dass wir in diesem Konflikt allein zurechtkommen, der als die Rückkehr der großen Geopolitik bezeichnet wird. Laut einer gerade veröffentlichten Umfrage sind 82 Prozent von uns der Meinung, dass Polen die EU um Hilfe bitten sollte, um die Krise an der polnisch-belarusischen Grenze zu lösen. … Es zeigt sich, dass sich die Polen in dieser Frage auf ihr eigenes Urteil verlassen – und nicht auf das der Regierung.“
Interia (PL) | 11. November 2021
Als nächstes ist die Ukraine dran
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Flüchtlinge an der Grenze zur Ukraine auftauchen, prophezeit Pawlo Klimkin, der unter Petro Poroschenko ukrainischer Außenminister war, in Visokij Samok:
„Flüchtlinge an den Grenzen zwischen der EU und Belarus sind eine typische russische Sonderoperation. Die Belarusen, einschließlich Lukaschenka, werden einfach benutzt. Polen, Litauen und Lettland werden eine Möglichkeit finden, sich zu verteidigen, und dann wird der Kreml einen Grund haben, die Flüchtlinge an unsere Grenze zu bringen. … Russland wird versuchen, uns für den unmenschlichen Umgang mit illegalen Migranten verantwortlich zu machen. … Jetzt ist nicht nur ein Treffen der Innenminister der Ukraine und der EU notwendig, sondern wir müssen im ständigen Kontakt bleiben: Die aktuellen Herausforderungen erfordern eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Handeln.“
Wisokij Samok (UA) | 10. November 2021
Warschau heizt die Krise an
Nicht nur Belarus trägt Schuld an der Eskalation, betont The Guardian:
„Polen behandelt die Ankunft dieser verzweifelten Menschen nicht als humanitäre Krise, sondern als Invasion. Es hat einen Ausnahmezustand an der Grenze ausgerufen, dort Tausende Soldaten stationiert und das Gesetz geändert, um Massenabschiebungen zu ermöglichen und Asylanträge zu ignorieren. Es plant eine Mauer im Stile Trumps. EU-Beobachter, Helfer und Journalisten wird der Zutritt in die 3-km-Zone verweigert. Während sich Litauen und Lettland bei Grenzübertritten aus Belarus zuvor von der EU helfen ließen, lehnt Polen solche Angebote ab. Verwickelt in einen Rechtsstaatlichkeitskonflikt mit Brüssel, nutzt Warschau die Migranten, um politisches Kapital aus ihnen zu schlagen und eine EU- und migrantenfeindliche Stimmung zu schüren.“
The Guardian (GB) | 09. November 2021
EU bleibt erpressbar
Die EU muss alles unternehmen, um diesem menschenverachtenden Spiel ein Ende zu bereiten, fordert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Es gibt immer noch politische und wirtschaftliche Hebel, vor allem müsste mehr gegen die Flüge getan werden, mit denen die Migranten nach Belarus kommen. Im Gegensatz zu anderen Fluchtrouten wurde diese aus rein politischen Gründen geschaffen. Trotzdem zeigt auch dieser Fall wieder, dass die EU endlich eine Grundsatzdebatte über die Asyl- und Migrationspolitik führen muss. So unverhohlen wie Lukaschenko hat schon Erdogan einmal versucht, Europa mit Asylbewerbern zu erpressen.“
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