Selbst für den erfahrenen Estland- Reisenden hat der Südosten Estlands Überraschendes zu bieten. Der „gemeine“ Tourist schafft es von Tallinn vielleicht gerade noch bis Tartu, der zweitgrößten (Universitäts-)Stadt des Landes. Richtig spannend wird es aber erst weiter südlich.
Da eine Reise in den Südosten Estlands von Tallinn aus nicht an einem Tag zu bewältigen ist, bietet sich Tartu als guter Ausgangspunkt an. Außerdem ist diese Stadt immer einen Besuch wert.
Los geht es in Richtung Otepää, Estlands Winterhauptstadt. Dafür verlassen wir einige Kilometer südlich von Tartu die Hauptstraße, was den angenehmen Nebeneffekt hat, dass wir uns langsam auf eine Gegend einstimmen können, in der Begriffe wie Hektik und Massentourismus vollkommen unbekannt zu sein scheinen.
Die estnische Schweiz und der Heilige See
Otepää mit seinen 2.500 Einwohnern liegt in einer von Wäldern bedeckten Hügellandschaft am sogenannten Pühajärv, dem Heiligen See. Landschaftlich ist das einer der schönsten Flecken Estlands, und vor allem im Sommer strahlt er Idylle und Ruhe aus. Die Einheimischen nennen die Gegend um das Städtchen gerne Estnische Schweiz.
Von Otepää fahren wir durch Voru, eines dieser stillen Städtchen, die für Estland so typisch sind, zum Suur Munamägi, dem Großen Eierberg, der mit seinen 318 Metern die höchste Erhebung des Baltikums ist.
Ich bin drei Mal am Parkplatz am Fuße des Munamägis vorbeigefahren, da nach anfänglich guter Beschilderung plötzlich nichts mehr auf die Sehenswürdigkeit verweist.
Dieser „Berg“ vermag nicht durch seine Größe zu beeindrucken, schon gar nicht einen in den Alpen aufgewachsenen Mitteleuropäer, sind es doch vom Fuße des Berges bis zum „Gipfel“ keine zehn Minuten „Fuß- marsch“. Was einem aber den Atem raubt, ist der Blick vom 40 Meter hohen Aussichtsturm, von wo der Besucher bei klarem Wetter bis nach Russland sehen kann.
Da breitet sich ein dunkelgrünes Meer von Wäldern aus, gelegentlich unterbrochen von idyllischen Dörfern und Weilern. Diese Aussicht will aber hart verdient sein – der Turm ist nur zu Fuß zu besteigen.

Zurück nach Voru und von dort nun Richtung Osten, kommen wir ins Piusa-Urstromtal, eine Gegend, die in Reiseführern kaum Erwähnung findet, in letzter Zeit aber immer populärer wird: Die künstlich dort durch Sandabbau entstandenen Sandsteinhöhlen erinnern frappant an Ausgrabungen im Nahen Osten. Wir haben Glück, die Sonne steht im richtigen Winkel und das Innere der Höhle beginnt richtiggehend zu „glühen“ – ein unvergleichliches Erlebnis.
Piusa ist gleichzeitig die Grenze zu einer anderen faszinierenden Region, Setomaa, das Land der Seto. Das ist eine finno-ugrische Volksgruppe, die aber anders als die Esten, den orthodoxen Glauben angenommen haben und einen für Nordesten schwer verständlichen Dialekt sprechen. Berühmt ist der eigentümliche, überdimensionierte Brustschmuck der Seto-Frauen. Die Seto waren nie der Leibeigenschaft unterworfen, so gibt es in diesem Gebiet keine Herrenhäuser und Gutsherren.

Allerdings mussten sie für die Nutzung des Landes und des Peipussees an das Petseri Kloster, dem die Liegenschaften gehörten, eine Abgabe zahlen. Die Seto leben auf einem Gebiet, das zur Hälfte zu Estland und zur Hälfte zur Russischen Föderation gehört.
Das ist nicht nur schade für Touristen, da beispielsweise das märchenhafte Kloster von Petseri nicht spontan besichtigt werden kann (russisches Visum notwendig), sondern vor allem tragisch für die Seto, die dadurch von ihren Familien auf der jeweils anderen Seite getrennt sind.
Zwei Orte bieten sich zur Besichtigung an: Obinitsa mit dem Seto-Museum und Värska wegen seiner bezaubernden Lage an einem Flussdelta. Betritt man das Museum in Obinitsa, so befindet man sich gleichzeitig in einem Wohnraum einer typischen Seto- Familie der 1920er und 1930er Jahre. Das Museum ist winzig, doch lohnt sich ein Besuch allein schon, um das strahlende Gesicht der Museumsleiterin zu sehen, die ihre Freude über das Interesse der Gäste an ihrer Volksgruppe herzlichst zum Ausdruck bringt.
Värska bezaubert vor allem durch seine Lage am Peipussee, aber auch der verschlafene Ort selbst ist ein Idyll der besonderen Art. An diese Ruhe muss sich ein Mitteleuropäer erst gewöhnen, und das Aufkommen einer gewissen Melancholie lässt nicht leugnen.
Und da wir schon die Ufer des Peipussees erreicht haben, des fünftgrößten Sees Europas, fahren wir am Seeufer entlang und geben uns genussvoll der Illusion hin, wir hätten das Meer vor Augen. Allerdings bedarf es dafür eines Umweges, denn Uferstraßen gibt es nur am Nordufer.
Mit der Seele baumeln in der Ruhe der Natur
Nicht nur der Blick auf den riesigen See und die vielen kleinen orthodoxen Kirchen in den Küstenorten Kallaste und Mustvee, sondern auch auf die unzähligen Fischerdörfer mit ihren zahlreichen bunten Holzhäuschen sind eine Augenweide und Balsam für die Seele.
Nach den märchenhaften Eindrücken dieser Rundreise, finden wir uns wieder in den Niederungen des Alltags: Nach der Fahrt von Mustvee nach Rakvere, also bereits auf der Schnellstraße Richtung Tallinn, verdichtet sich der Verkehr, und wir nähern uns rasch der Hauptstadt. Mit 400.000 Einwohnern wohl kaum Metropole zu nennen, könnte sie nach diesem Abstecher in den Südosten Estlands großstädtischer nicht wirken
von Peter Sieberer
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