Von Tauno M. Lang, München
Das estnische Ensemble „Teater NO99“ aus Tallinn ist im Juni mal wieder in der Stadt bzw. in den Münchner Kammerspielen zu erleben. Mit den Gründern Tiit Ojasoo (Intendant und Hausregisseur) und Ene-Liis Semper (Bühnenbildnerin und Performancekünstlerin) ist seit 2004 eine interessante Truppe zusammengewachsen, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, in Estland politisches Theater zu machen. Auch der Name ist Programm, denn man will mit der Zeit 99 Produktionen auf die Bühne bringen und wenn man bei Null ankommt, ist die Zeit reif, sich wieder aufzulösen und das hoffentlich in Wohlgefallen. Aber soweit ist es noch nicht. In der Spielzeit 2011/2012 haben sie mit „Three Kingdoms“ erst die Nr. 69 erreicht und damit international große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Inzwischen entern sie alle prominenten Bühnen und Festivals, wie das Schauspielhaus in München, so auch die Häuser von London, Paris, Wien, Köln, Bern, Tampere und St. Petersburg.
Das Konzept der „wilden Esten“ wirkt originell und erinnert mit den zuweilen eingestreuten Improvisationen an das Experimentiertheater der „revolutionären“ 68er-Zeit. Die Aufführungen begnügen sich nicht mit gesellschaftskritischer Satire oder Seitenhiebe auf politische Vorgänge, wie im brav angepassten Theaterbetrieb zur Sowjetzeit mit seiner Begeisterung für blendende Unterhaltung. Von wegen, da wird mächtig und unüberhörbar auf die Pauke gehauen und wenn es nötig ist, auch Schlag auf Schlag. Die Inszenierungen entstehen in Zusammenarbeit von Regisseur und Schauspielern und das kann schon mal mit Musik, Bühnenbild und Multimedia chaotisch bis absurd anmuten und beim Publikum Verstörung und Kopfschütteln auslösen – in Estland mehr als in Westeuropa. Mit den Stücken werden Fragen ausgesprochen, die Estlands Regierung lieber verschweigt, weil sie nicht zum Image des innovativen IT-Landes passen und vielleicht ist darin auch die Intention zu vermuten, dass so inszeniert wird, als sei es das letzte Bühnenstück.
Vorerst werden die Esten aber mit „Every true heartbeat“ (estnisch „Iga eht südamelöök“ bzw. deutsch „Jeder echte Herzschlag“) im Schauspielhaus am 14.6. zu erleben sein, das durch Gedichte des estnischen Poeten Juhan Liiv inspiriert ist. Wie Emotionen auf die Bühne zu bringen und darzustellen sind wird spannend werden und hoffentlich nicht unmöglich sein.
Anderntags (15.6.) wartet das Ensemble mit „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ provokant auf, um mit außergewöhnlicher Performance zu fordern, dass in einer lebenswerten Gesellschaft für Kunst immer finanzielle Mittel vorhanden sein müssen. Dafür bietet die junge Truppe weder Erklärung noch Lösung an, kann aber aus eigener Erfahrung ein „estnisches Lied“ davon singen. Auch wenn in estnischer Sprache gespielt wird, so ist das Geschehen auf der Bühne mit deutschen Übertiteln gut zu verstehen.
Die engagierte junge Truppe ist dem „eingefleischten“ Publikum nicht fremd, denn so gibt es u.a. ein Wiedersehen mit Tambet Tuisk (u.a. bekannt in der glänzenden Rolle des „Schnaps“ aus dem Film „Poll“ von Chris Kraus) und Risto Kübar, der zur Zeit auch dem Ensemble der Kammerspiele angehört.
Der 2010 verstorbene Theaterregisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief (mit der Finnin Aino Laberenz verheiratet) hat immer wieder provozierend auf herrschende Verhältnisse reagiert – am Spiel von NO99 hätte er als großartiger Wachrüttler gewiss seine helle Freude gehabt. Statt seiner, dürfen die Münchner sich zu ihrer Freude von den Esten kräftig wachrütteln lassen.
Weitere Informationen: www.muenchner-kammerspiele.de
Fotoquelle: Delfi
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