Die unverwüstlichen Balten – ein Reisebericht
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Die unverwüstlichen Balten – ein Reisebericht

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Wer zum ersten Mal ins Baltikum reist, wird überrascht sein. Die meiste Zeit über auf eine angenehme Art, aus verschiedenen Gründen.

Das Baltikum mit dem Oblast Kaliningrad.

Alle drei baltischen Staaten haben den Euro angenommen, aber die Kosten für Unterkünfte, Lebensmittel und Unterhaltung sind sehr viel geringer als im Westen Europas. Ein anständiges Hotelzimmer ist überall im Baltikum für hundert Dollar zu haben und gute Sitzplätze in einem Konzert für knapp 50 Dollar.

Die Preise für Verkehrsmittel sind ähnlich vernünftig. Eine Busfahrt zwischen Vilnius und Riga (ca. 300 km) oder Riga und Tallinn (ca. 310 km) kostet weniger als 5 Euro, wenn man früh genug bucht. Die Entfernungen zwischen den Metropolen ist eine weitere Überraschung für den Besucher. Das Baltikum mag auf der Landkarte klein wirken, verglichen mit dem Riesen Russland im Osten. Doch für europäische Maßstäbe sind sie gar nicht so klein.

Jedes Land ist für sich allein größer als die Niederlande oder die Schweiz. Litauen und Lettland sind beide doppelt so groß wie Belgien, und, wenn man sie zusammennimmt, fast so groß wie England. Sehenswert sind jedoch nicht nur die sauberen, gut erhaltenen Altstädte der Metropolen, sondern auch die Strände und Erholungsgebiete; ausgedehnte Wälder laden zum Wandern oder zur Beobachtung der Tier- und Pflanzenwelt ein, die Flüsse und Seen zum Schwimmen, Angeln oder Erkunden mit dem Kanu (im gesamten Baltikum gibt es fast 7.000 davon)

Auch wenn die Balten als zurückhaltend und vorsichtig gelten, erweisen sie sich als aufgeklärte Gesprächspartner mit fesselnden Geschichten, vor allem wenn es um die eigene Geschichte oder aktuelle Angelegenheiten geht.

Das eigentlich überraschende an den baltischen Staaten ist, dass sie überhaupt existieren

Seit dem Mittelalter wurde das Land, dass heute Lettland und Estland umspannt, von Dänen, Schweden, Polen, Deutschen und Russen regiert.

Das Baltikum ist heute ein fester Bestandteil der Europäischen Union.

Litauen war einst eine Großmacht, zuerst als unabhängiger Staat, der bis zum Schwarzen Meer reichte, später als Teil der Polnisch-Litauischen Union, doch innere Schwäche und starke Nachbarn haben im Jahr 1795 zu seinem Verschwinden von der europäischen Landkarte geführt. Erst seit 1918 sind Litauen, Lettland und Estland die unabhängigen Staaten, die wir heute kennen.

In den Jahrhunderten unter Fremdherrschaft haben verheerende Kriege und Hungersnöte die Region heimgesucht, ebenso wie die wirtschaftliche Abhängigkeit von einer Minderheit deutscher Landbesitzer und Adliger, und, schließlich im 19. Jahrhundert, die brutale Russifizierung.

Vor allem das 20. Jahrhundert hat seine Spuren hinterlassen

Das Baltikum war in beiden Weltkriegen Schauplatz von Schlachten zwischen den Kriegsgegner und anschließend von Kämpfen um die eigene Unabhängigkeit.

Glücklicherweise hat die Gewalt den wunderschönen Altstädten von Vilnius oder Tallinn ebenso wenig geschadet wie den Kathedralen und der Art Nouveau-Architektur Rigas. Das baltische Volk hingegen wurde besetzt, vertrieben, deportiert und in gewaltiger Zahl ermordet. Lettland verlor 35% seiner Bevölkerung im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg. Hunderttausende Tote forderte schließlich auch der Zweite Weltkrieg. Erst 1950 endete die blutige Auseinandersetzung mit den Sowjets um die Unabhängigkeit und Freiheit der Region. Zwischen 1944 und 1952 wurden zusätzlich 250.000 Litauer in Haft genommen, verschleppt, gefoltert oder ermordet.

Das Museum der Opfer des Völkermordes, das im früheren Gebäude des russischen Geheimdienstes KGB in Vilnius seinen Sitz hat, ist übersät mit Arrestzellen oder Folterkammern, die ihre eigene traurige Geschichte erzählen.

Was das Überleben zusätzlich erschwert, ist die relativ geringe Bevölkerungszahl der drei baltischen Länder: Selbst heute gibt es wenig mehr als 1 Million Esten und nur 1.2 Millionen Letten. In der sowjetischen Ära fanden Hunderttausende Sowjetbürger aus allen Teilen des Riesenreichs ihre neue Heimat im Baltikum, vor allem Lettland.

Kulturell sind die drei baltischen Staaten eng miteinander verbunden.

Alle drei Staaten kennzeichnet eine geringe Geburtenrate bei einer großen Menge an Auswanderern. Allein in den 1990ern schrumpfte die Bevölkerung von Estland um 200.000. Seit dem Beitritt zur Europäischen Union hat Lettland knapp 20% seiner Einwohner an den gesamteuropäischen Arbeitsmarkt verloren. Litauens Quote liegt nur unwesentlich darunter.

Die Geschichte der Balten ist geprägt von Gewalt und Auseinandersetzungen

Zusammengefasst können die Herausforderungen des Baltikums als existenziell bezeichnet werden. Aber es macht Hoffnung zu sehen, dass die drei Identitäten, ihre jeweiligen Kulturen und ihre Fähigkeit zu Überwindung aller Probleme die Balten in den vergangenen Jahrhunderten in die Lage versetzt hat, allen Widerständen zu trotzen. So betrachtet, werden sie auch die anstehenden Schwierigkeiten meistern.

Autor: Anthony J. Minna | Übersetzung: Justus Makollus

Justus Makollus
Justus Makollus, Autor, Korrektor/Editor und Übersetzer der Baltischen Rundschau, hat Deutsche Literatur in Marburg, Deutschland, studiert. Neben dem Interesse an Kultur und Gesellschaft des Baltikums stehen insbesondere die politischen Besonderheiten und Entwicklungen Osteuropas im Mittelpunkt seiner Arbeit. Er ist freier Blogger (makollatur.wordpress.com) und lebt in Frankfurt/Main.

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1 Comment

  1. Die Abwanderung auf den europäischen Arbeitsmarkt sehe ich eher positiv als negativ für das Baltikum und die baltische Wirtschaft. Jeder Lette, jeder Litauer und jeder Este ist ein Botschafter für den Fleiß, die Zuverlässigkeit und die gute Bildung, welche er in seiner Heimat genossen hat.

    Für ausländische Investoren sind Fleiß, Zuverlässigkeit und Bildung wichtige Parameter, wenn es um die Standortfrage für ein Investment innerhalb der Europäischen Union geht. So wie vor knapp 30 Jahren die Polen, Ungar und Tsch echen auf den westeuropäischen Markt drängten um 15 Jahre später in leitender Funktion gemeinsam mit einem ausländischen Investoren in die Heimat zurückzukehren, könnte es auch der Baltischen Wirtschaft ergehen.

    Eine wichtige Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Europa und Russland einen Weg der Freundschaft beschreiten. – Notfalls unter Ausschluss der USA, deren Interessen oftmals eher im eigenen Vorteil lagen und weniger an einer friedlichen Koexistenz der Völker. Siehe Afrika und Naher Osten, wo die USA nicht selten die Menschenrechte der einheimischen Bevölkerung mit den Schürfrechten der eigenen Unternehmen verwechselt und ganz nebenbei noch gute Waffengeschäfte zum Erhalt des Schreckens tätigen.

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