Lettland: Abwanderung sorgt für Probleme
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Lettland: Abwanderung sorgt für Probleme

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Atis Sjanis hat eine ungewöhnliche Aufgabe für einen Botschafter. Der lettische Diplomat kümmert sich nicht um die Beziehungen zu anderen Staaten – sondern um die Gründe für die Abwanderungswelle im eigenen Land.

Sjanits Job ist es, über den Exodus zu berichten, der seit Lettlands Beitritt in die Europäische Union ein großes Problem im Land ist. Fast ein Fünftel der Einwohner sind seit 2004 in reichere Staaten ausgewandert, z.B. Großbritannien, Irland oder Deutschland.

Im Jahr 2000 hatte Lettland noch eine Bevölkerung von 2.38 Millionen. Zu Beginn dieses Jahres waren es 1.95 Millionen. Kein anderes Land hat einen derart starken Abfall in der Bevölkerung aufzuweisen. Dies entspricht nach Informationen der Vereinten Nationen einem Anteil von 18.2 Prozent. Nur Lettlands beinahe ebenso schnell schrumpfender Nachbar Litauen mit 17.5 % und Georgien mit 17.2 % Verlust kommen in die Nähe.

Jeder Auswanderer ist ein Steuerzahler weniger

„Die Wahrheit ist, dass wir die Menschen verlieren – und zwar schnell“, sagt Sjanit in seinem kleinen Büro im stattlichen Gebäude des Außenministeriums in der lettischen Hauptstadt Riga.

Sicher, ökonomische Zwänge sind nicht der einzige Grund für die Abwanderung der jungen Bevölkerung in andere Staaten. Der kleine Baltenstaat klagt über eine vergleichsweise geringe Geburtenrate und hohe Sterblichkeit.

„Die Grenzen sind offen; Berichte über die Lebensumstände in anderen Staaten sind frei zugänglich und jeder nimmt diese Freiheit wahr. Also gehen die jungen Leute natürlich nach England, Irland oder Deutschland“, so Journalist Aleksandr Rube.

Das Ergebnis, so Sjanit, ist nicht weniger als eine Gefahr für das Überleben des lettischen Staates. Denn auf der anderen Seite werden nicht genug zukünftige Soldaten – oder Steuerzahler – geboren.

In vielen Städten wandern die jungen Leute aus – zurück bleiben vor allem die Älteren. Foto: pixabay/mac8oppo

„Lettland ist sowieso schon ein Land mit einer geringen Bevölkerungszahl“, sagt Otto Ozols, ein prominenter Journalist und Fernsehkommentator. „Bei dieser Rate hört Lettland in 50 Jahren auf zu existieren.“

„Für uns ist es fünf Minuten vor Zwölf“, so Ozols.

Die Auswirkungen der Krise sind am stärksten, und offensichtlichsten in Latgale spürbar, seiner ärmsten Region in der südöstlichen Ecke an der Grenze zu Russland.

Vor allem Großbritannien, Irland und Deutschland sind beliebt

Das durchschnittliche Einkommen liegt in Lettland bei 670 Euro im Monat. In Latgale verdienen die Menschen gerade einmal die Hälfte. “Die Löhne hier sind ein Witz“, sagt Aleksandr Rube, ein Journalist der Latgales Laiks, einer regionalen Zeitung. „Ist es da ein Wunder, dass die Leute wegwollen?

Einige junge Menschen ziehen nach Riga – die Einwohnerzahl der Stadt, ca. 640.000 hat sich nach einer langen Zeit des Rückgangs wieder erholt. Aber viele verlassen das Land einfach. Leere Häuser im Zentrum der Bezirkshauptstadt Daugavpils vermitteln einen Eindruck von Verlassenheit.

Die meisten Leute kommen nicht zurück – außer zu Besuch.

„Ich möchte nicht zurückkommen“, sagt Irusik Krasotusik, 22, der vor einigen Jahren nach England gegangen ist und in der Stadt seine Schwester besucht. „Die Situation hier ist zu schlecht.“ Nach den Auswirkungen des Brexit gefragt und der Behandlung von Ausländern in Großbritannien, bestätigt sie, dass „viele Briten uns nicht mögen“.

Engagierte Letten werben für den Verbleib in der Heimat

Leute wie Krasotusik bringen Vladislavs Stankevics zur Verzweiflung, den chronisch gut gelaunten Kopf einer Initiative zur ökonomischen Entwicklung von Latgale. „Es gibt Arbeit hier“, erwidert er in seinem Büro in einem alten Sowjetbau im Zentrum. „Es ist do so: jeder der arbeiten will, hat eine reale Chance zu arbeiten.“

Die Löhne sind immer noch niedrig, auch wenn sie mittlerweile steigen, räumt er ein. „Aber“, fügt er an, bezogen auf die Kriegsspiele, die die NATO und Russland im letzten Jahr veranstaltet haben, „das ganze Gerede von Krieg, ob echt oder nicht, ist nicht gut für die Attraktivität einer Region.“ Es sorgt auch für Unsicherheit für ausländische Anleger, sagt er weiter.

Doch es gibt Anzeichen, dass die Welle, auch wenn sie sich nicht umkehrt, so doch an Stärke verliert. Nach Angaben des Centrālā statistikas pārvalde (Zentrale Statistische Behörde Lettlands) lag die Anzahl der Heimkehrer im Jahr 2016 ganze 40 % höher als derjenigen, die das Land verließen. In den letzten drei Jahren lag diese Zahl bei 26-37 %.

„Viele junge Leute hier denken, dass es ganz einfach ist, viel Geld im Ausland zu verdienen“, so Svetlana Lonska, die vor einigen Jahren zurückkam und ein erfolgreiches Zumba-Studio aufbaute. „Ich versuche ihnen zu erklären, dass es sehr viel schwieriger ist, als sie annehmen.“

Auch versucht sie den Auswanderern beizubringen, dass im Leben mehr zählt als Geld. „Ich bin stolz darauf, dass ich mir hier in meinem Heimatland ein Leben aufbauen konnte. Das bedeutet etwas.“

Dennoch, gesteht sie ein, „die Leute wandern weiter aus.“

Autor: Gordon F. Sander

Übersetzung: Justus Makollus

Justus Makollus
Justus Makollus, Autor, Korrektor/Editor und Übersetzer der Baltischen Rundschau, hat Deutsche Literatur in Marburg, Deutschland, studiert. Neben dem Interesse an Kultur und Gesellschaft des Baltikums stehen insbesondere die politischen Besonderheiten und Entwicklungen Osteuropas im Mittelpunkt seiner Arbeit. Er ist freier Blogger (makollatur.wordpress.com) und lebt in Frankfurt/Main.

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