Eines der ersten Länder, die von Finnlands Hightech-Boom profitieren könnten, ist Estland
Das Land an der Ostsee, mit seinen langen und kalten Wintern, ist etwa so groß wie die Niederlande, hat aber insgesamt nur 1,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Tallinn liegt nur 80 Kilometer südlich von Helsinki, auf der anderen Seite der Ostsee. In der mit am besten erhaltenen mittelalterlichen Stadt konzentrieren sich Industrie und Wirtschaftsaktivität. Der wichtige Hafen stellt wie in Hansezeiten die Verbindung zur Außenwelt dar.
Ein wesentlicher Vorteil des Standorts Estland ist das geringe Lohnniveau der hoch qualifizierten Arbeitskräfte. Nicht einmal ein Zehntel verdienen Esten im Vergleich zu ihren schwedischen Kollegen. Dies könnte langfristig zum Nachteil werden, wenn hohe Löhne und renommierte Unternehmen in Westeuropa die Esten abwerben.
Bislang tendieren die jungen Esten nur dazu, sich für wenige Jahre im Ausland zu tummeln, aber dann zurückzukommen. Dies liegt auch am estnischen Charakter: Man bleibt gerne in seiner vertrauten Umgebung, bei Familien und Freunden.
Es lebt sich in Tallinn eben auch ganz gut. Riesige Seengebiete, Biosphärenreservate und ausgedehnte Waldgebiete prägen Land und Leute und bieten üppige Freizeitmöglichkeiten in der Natur. Neben der modernen Technologie lieben die als zurückhaltend geltenden Esten aber vor allem eines: die Sauna. Sie sind eine echte nationale Institution und geben den Menschen in den langen, dunklen Wintern seit Jahrhunderten Wärme.
Die schöne Hansestadt Tallinn, die Hauptstadt des baltischen Landes, ist nicht nur reich an historischen Sehenswürdigkeiten, sondern Dreh- und Angelpunkt des wirtschaftlichen und politischen Lebens im Lande. Zum Leben und Wohnen ist es bislang für Westeuropäer noch nicht der bevorzugte Aufenthaltsort. Der Lebensstandard der Esten nimmt aber kontinuierlich zu.
Als Touristen kommen immer häufiger auch Westeuropäer ins Vorzeigeland des Baltikums.
Estlands Wirtschaftspotenzial
Zum Aufschwung in Estland haben die Investitionen der skandinavischen Nachbarn Schweden und Finnland in lokale Firmen nicht unerheblich beigetragen. Die Telekom-Giganten Telia und Sonera haben mit Großinvestitionen in die “Eesti Telekom” und in die Infrastruktur Anfang der 1990er-Jahre den Startschuss gegeben, um das Nachbarland als Markt, aber eben auch als (kostengünstigen) Standort zu erschließen.
Traditionell sind die Wirtschafts-, Kultur- und auch die Familienbeziehungen besonders mit Finnland sehr eng. Kaufkräftige Touristen und Besucher aus Skandinavien sind deshalb genauso willkommen wie Investoren. Wenn den finnischen Firmen der Platz nicht mehr reicht und die Kosten zu hoch werden, darf es als Standort schon mal Tallinn sein. Aber auch für andere Unternehmen und Investoren hat sich die Region zu einem attraktiven Standort entwickelt.
Nach dem Ausscheiden aus dem russischen Staatsgebilde hat sich das Land in kürzester Zeit zu einem der dynamischsten Länder des Ostens gemausert. Über 6 Prozent Wachstum wurden in den vergangenen Jahren erreicht, das Staatsbudget ist solide. Die Perspektiven sind bereits hervorragend.
Auf estnischen Autobahnen hat man sogar schon Verkehrschilder für die Zukunft aufgestellt: Sie zeigen einem den nächsten Ort an, an dem man seine E-Mails abrufen kann. Selbst auf dem Lande sind diese Schilder mit dem @-Symbol weit verbreitet. Estland will über den Informationshighway den Anschluss an Westeuropa herstellen und die Transformationsprozesse möglichst schnell mit Innovationen schaffen. Die Internetnutzung und die Ausstattung mit Handys ist bereits jetzt beinahe so hoch wie in Deutschland, 85 Prozent der jüngeren Bevölkerung surft häufig im Cyberspace.
Internet-Banking und andere E-Services werden in und um Tallin so häufig nachgefragt wie selten sonst wo. Auch Estland selbst hat in die Infrastruktur investiert und ist schon jetzt ein wichtiger Telekommunikations-Standort geworden. Mit der weiteren Deregulierung der estnischen Telekom wird der Boom weitergehen. Mittlerweile sind neben den großen Anbietern wie Ericsson und Nokia auch estnische Anbieter wie EMT, Radiolinja und QGSM gut am Mobilmarkt vertreten.
Neben den Herstellern haben sich zahlreiche ergänzende Serviceanbieter, Provider, Händler und Dienstleister angesiedelt und gegründet.
Bildung
Tallinn hat sich in den letzten Jahren stark in Richtung Westeuropa ausgerichtet und wird daher für die Elite des Landes immer attraktiver.
Die Regierung plant, jetzt eine neue Universität mit Schwerpunkt IT und Telekommunikation zu errichten. Bislang wird Informatik in Tallinn an der Technischen Universität und der Pädagogischen Universität sowie an der Universität Tartu gelehrt. Im Bereich Telekommunikation und Computer spielen sich auch die Forschungs- und Innovationsaktivitäten mit Zukunftsausrichtung wesentlich ab.
Ohnehin ist die Ausbildung der Esten im Technologiebereich erstaunlich hoch.
Hinzu kommt der sehr enge Austausch mit den Firmen – die räumliche Nähe und Überschaubarkeit macht’s. Gerne und oft gründen Esten ihre eigenen Unternehmen. Das Verständnis von Marktwirtschaft und der Unternehmergeist haben sich in nicht einmal zehn Jahren entwickelt.
Einige träumen auf Grund des Booms von einem neo-hanseatischen Hightech-Paradies, das die bereits eher etablierten Power-Regionen Skandinaviens mit den baltischen Start-ups verlinkt. Realistischer sind aber die Fakten. Die Esten haben ein sehr gutes Bildungsniveau, Kenntnisse im IT-Bereich und verfügen offensichtlich über besonders smarte Gründer und IT-Experten, die, allen politischen Unbillen zum Trotz, hier sehr erfolgreiche Unternehmen aufgebaut haben, die in Europa konkurrenzfähig sind.
Die Anreize für ausländische Direktinvestitionen
Estland hat selbst das Heft in die Hand genommen und das marode Kommunikationssystem der Sowjetzeit schnell über Bord geworfen und gleich auf die neueste und beste Technik gesetzt. Mit umfangreichen Regierungsprogrammen wurde der Umbau zur E-Society unterstützt, jede Schule im Land bekam z.B. einen Internetzugang. Im Vergleich mit anderen skandinavischen Staaten ist Estland zudem ein echtes Steuerparadies. Die Steuerpolitik schafft die richtigen Anreize für ausländische Direktinvestitionen und unterstützt weiter, gemeinsam mit Unternehmen und Multiplikatoren, den Ausbau des IT-Clusters.
Mit diesen Investitionen und Bemühungen wurde die Technologieindustrie in kürzester Zeit aufgebaut und das IT-Wissen der Bevölkerung verstärkt. Gerade die Mischung aus Technologiebegeisterung und die Möglichkeit der Anbieter, Estland als Testfeld für neue Anwendungen (z.B. im Bereich GPRS) zu nutzen, hat sich ausgezahlt.
Prognose
In Zukunft könnte Estland dann mit seinen niedrigen Steuern, den flexiblen Märkten und Gesetzen und den hungrigen Start-ups zu einer echten Konkurrenz der Skandinavier und anderer Europäer werden. Angetrieben von der weiter steigenden Nachfrage entwickelt sich das Land schwungvoll und wird so zu einem wichtigen und kostengünstigen IT-Standort.
von Nam Kha Pham | Experto.de
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Schön und gut, solche Artikel lese ich seit über 10 Jahren. Aber wo sind sie denn, die erfolgreichen estnischen IT-Firme? Ja Skype, und sonst?
Nur mit kleinen Agenturen und um temporär Auftragsspitzen für große skandinavische Technologiefirmen abzuarbeiten, bietet man den jungen Fachkräften keine Perspektive.
Zum einen geht so der Aderlass in der estnischsprachigen Bevölkerung weiter, zum anderen hat Estland nach wie vor ein offenes Thema mit der Integration der russischsprachigen Bevölkerung.
Die Zentrierung des wirtschaftlichen Lebens auf Tallinn tut ein Übriges, weite Teile des Landes zunehmend zu schwächen und letztlich zu entvölkern. Dort ist dann auch das “Grundrecht auf freies Internet” eher theoretischer Natur.
Das sind alles lösbare Probleme, aber denen muss sich Estland stellen, wenn man einmal ohne EU-Förderung einen ausgeglichenen Haushalt hinbekommen möchte.
Dem stimme ich weitgehend zu. In den Städten ist die Internetversorgung leidlich zu gebrauchen, auf dem Land ist sie grottenschlecht. Mieser Empfang bis Abbruch der Verbindung ist dort Normalzustand. Das betrifft alle Versorger, wir haben schon alles mögliche ausprobiert.