Mutprobe NS-Zeit: unheimliche Faszination und hohe Sensibilität der Gen Z
Ergebnisse der tiefenpsychologischen rheingold-Studie zur Haltung der Gen Z zum Nationalsozialismus im Auftrag der Arolsen Archives
Die Generation der 16-25-Jährigen (Gen Z) interessiert sich deutlich mehr für die NS-Zeit als die Generation ihrer Eltern (75 % vs. 66 %) und verbindet die Auseinandersetzung mit akuten gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus und Diskriminierung. Die Monstrosität der NS-Verbrechen löst dabei eine Mischung aus Angst und Faszination aus – die Konfrontation hat psychologisch den Charakter einer Mutprobe, bei der die Gen Z ohne verordnete Moral auch den Motiven der Täter nachspüren will. Das sind zentrale Erkenntnisse einer großen qualitativ-tiefenpsychologischen wie auch quantitativ-repräsentativen Studie „Die Gen Z und die NS-Geschichte: hohe Sensibilität und unheimliche Faszination“ im Auftrag der Arolsen Archives.
Grenzerfahrung zwischen verschiedenen Lebenswelten
Das überraschend hohe Interesse der Gen Z erklärt sich auch durch ihre besondere Lebenssituation in einer komplexen Welt mit einer multioptionalen Bereitstellungskultur. Dagegen ist die NS-Zeit mit ihrer Pflicht zum unbedingten Gehorsam und den völkisch-festgelegten Kategorien ein extremes Gegenbild. Die Auseinandersetzung ist für Jugendliche somit eine Grenzerfahrung und befriedigt den Reiz, sich in tabuisierte Gefilde vorzutasten. Dabei wollen sie sich in die Opferrolle hineinversetzen und die Ungerechtigkeit nachempfinden, aber auch das Böse, die Täterperspektive erkunden
(54 %): Wie konnte es so weit kommen? Wie hätte ich mich in der NS-Zeit verhalten? „Die jungen Menschen wollen selbst die Moral der Geschichte erkennen“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des rheingold Instituts. „Sie wollen am Diskurs teilhaben und Meinungen hinterfragen dürfen.“
Angst vor der eigenen Entscheidung
Doch diese Gedankenspiele sind auch beängstigend: Fast ein Drittel der Gen Z fürchtet, dass das Thema eine zu große Wirkung entfalten könnte, sogar eine rauschhafte, verführerische Seite hat. „Ich habe wirklich Angst, dass ich damals auch auf der Seite der Nazis gestanden hätte, nur um besser dazustehen.“
Insgesamt ist auffällig, dass der Bezug zur Jetzt-Zeit eine sehr hohe Relevanz für die Proband*innen hatte. Befreit von dem Gefühl persönlicher Schuld, bauen sich die jungen Leute eine Brücke zum eigenen Alltag und versuchen ihre eigene Lebenswelt in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit besser zu verstehen – dazu gehören eigene Entwicklungsaufgaben (z.B. „Wie individuell darf ich sein?“) wie auch gesellschaftliche Probleme (z.B. „Fake News“, Rassismus oder Aggressionsbereitschaft).
Wie lebendige Erinnerung heute aussehen kann
„Ich nehme in den Ergebnissen der Studie bei den Jugendlichen eine große Offenheit, Neugier und Freiheit im Denken wahr“, erklärt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. „Heute erlebt diese Generation, dass Demokratien in Gefahr geraten können. Ich finde es sehr gut nachvollziehbar, dass Erinnerung für sie mit dem Blick in ihre eigene Lebenswelt verbunden ist, in der populistische, autoritäre und intolerante Stimmen immer lauter zu hören sind.“
Daraus entsteht eine hohe Bereitschaft, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen – ein zentrales Anliegen der Arolsen Archives, dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern des Nationalsozialismus und UNESCO-Weltdokumentenerbe. Dabei erwarten die jungen Menschen jedoch einen offenen Diskurs, in dem sie frei über das Thema „NS-Zeit“ diskutieren können. Eine konstruktive und zeitgemäße Auseinandersetzung braucht außerdem den Einblick in konkrete Lebenswirklichkeiten, eine Verschmelzung digitaler und analoger Angebote und leicht verständliche Informationen.
Zur Stichprobe und Methode der Studie
Ziel dieser Studie ist es, die Bedeutung der NS-Geschichte für die Generation Z zu analysieren und für sie anschlussfähige, zeitgemäße Zugänge zum Thema Nationalsozialismus zu finden. Für die Erhebung wurden insgesamt 100 Proband*innen, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 16 bis 25 Jahren und Erwachsene zwischen 40 bis 60 Jahren (Vergleichsgruppe), tiefenpsychologisch (Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen) befragt. Bei der Auswahl der Proband*innen wurde darauf geachtet, dass soziodemographische Strukturen (Geschlechter, regionale Verteilung, Altersverteilung, Bildung und Beruf) möglichst genau abgebildet werden. Die Tiefen-Explorationen wurden mittels der rheingold-Methode durchgeführt und analysiert. In einer anschließenden quantitativen Erhebung wurden insgesamt 1058 Jugendliche und Erwachsene befragt. Die Studie ist repräsentativ für Alter, Geschlecht und Region in den jeweiligen Altersklassen.
Comments