Die Rolle nationaler Mythen in der politischen Kultur Litauens
In der Form von Mythen wird das Gestern an das Heute gebunden und die Angst vor der Zukunft genommen. Durch Mythen erhält eine Gesellschaft einen Ursprung als festen Halt. von dem aus sie ihre Geschichte betrachten und bewerten kann. Dieser Ursprung hilft dabei, die Stellung der Gesellschaft in der gegenwärtigen Welt zu verstehen und zu bewerten und Ziele für die Zukunft der Gesellschaft zu formulieren.
Bei Mythen handelt es sich nicht um faktische, sondern um erinnerte Geschichte, die sich jeweils den gegenwärtigen Gegebenheiten anzupassen hat. Gesellschaftliche Vergangenheit ist somit eine soziale Konstruktion. die den sozialen Sinnbedürfnissen in er jeweiligen Gegenwart dient.
Die litauischen Mythen im Einzelnen
Die litauische Gesellschaft verfügt selbstverständlich auch über Mythen. In diesem Artikel soll sich nur mit den staatlich sanktionierten, also zu Feiertagen erklärten, Mythen auseinandergesetzt werden. Litauen verfügt über drei dieser nationalen Feiertage.
Abgesehen von ihren Inhalten zeichnen sich diese Feiertage dadurch aus, dass an ihnen die Bekundung der nationalen Einheit durch Beflaggung aller Gebäude gesetzlich vorgeschrieben 1st: Der Krönungstag des litauischen Königs Mindaugaus auch ,Staatstag’ genannt am 6. Juli, der ,Tag der Wiederherstellung des litauischen Staates’ am 16. Februar und der ,Tag der Wiederherstellung der
Litauischen Unabhängigkeit’ am 11.3.
Alle drei Mythen haben als zentralen Topos den Staat. Sie sind Ausdruck des Strebens der Verwirklichung der Nation im eigenen Staate.
Ein Streben, das in den kulturnationalistischen Bewegungen besonders stark ausgeprägt war, da die Organisierung nach und die Bewahrung der nationalen Eigentümlichkeiten als eines der zentralen Elemente des Kulturnationalismus die staatliche Trennung der Nationen zu ihrer freien Entfaltung bedingte.
Erster Mythos: Die Krönung Mindaugas
Der Krönungstag des litauischen Königs Mindaugas, auch Staatstag genannt, wird am 6. Juli gefeiert.
An diesem Tag im Jahre 1238 wurde Mindaugas zum ersten und einzigen litauischen König gekrönt.
lm historischen Gedächtnis Litauens steht dieser Tag erstens für den Eintritt Litauens in die westliche Staatenwelt, zweitens für die Gleichwertigkeit der litauischen Nation mit den Nationen Westeuropas durch die symbolträchtige Erhebung zum christlichen Königreich und drittens, im Zuge des ersten mit der Krönung verbundenen Christianisierungsversuchs, für die Entscheidung gegen den orthodoxen Osten und für den katholischen Westen, als dessen Bollwerk sich das spätere Litauen auch verstand.
Zugleich ist dieser Tag repräsentativ für eine Periode, die in der ,Erfindung einer Tradition’ des litauischen Volkes im 19. Jahrhundert zum goldenen Zeitalter Litauens stilisiert wurde.
Litauen eroberte während der Herrschaft Mindaugas und seiner Nachfolger Gebiete, die sich während der größten Ausdehnung von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckten.
Zugleich gelang es den Litauen als einzigen unter den Balten, die Angriffe der kriegerisch missionierenden christlichen Orden – gleichgesetzt mit den Deutschen – abzuwehren und zugleich die Moskowiter – gleichgesetzt mit den Russen – in Schach zu halten. Im kollektiven Gedächtnis steht diese Zeit für die Potenz des freien, ungebändigten litauischen Volkes das unabhängig von seinen Nachbarn existieren kann.
Die Zeit bis 1569 bildete im 19. Jahrhundert die Matrize für die Konstruktion des mythischen Ursprungs der Litauer. Die Periode wurde repräsentiert durch ihre mythisierten Herrscher: Mindaugas als König, Gediminas als mythischer Einiger Litauens und Vytautas als letzter eigenständiger litauischer Herrscher.
Das goldene Zeitalter der Litauer wurde dann durch den Abschluss der Lubliner Union beendet mit der Litauen der polnischen Anarchie anheim fiel, die den litauischen Niedergang besiegelte.
Während der Zeit der Fremdherrschaft überlebte, nach Ansicht von Aktivisten der litauischen Nationalbewegung, die litauische Volksseele in der Sprache und Kultur und Bauernschaft Litauens. Diese historische Konstruktion war der Dreh, mit dem mittlerweile kulturell und sprachlich polonisierten Adel die Erbhalterschaft des Großfürstentums abgesprochen und dem neuen eigentlich litauischen Subjekt, eben der Bauernschaft, zugesprochen wurde.
Somit wurde dem auf kulturnationalistischer Grundlage neukonstruierten modernen litauischen Volk eine heldenhafte Vergangenheit geschaffen, indem einige defizient erscheinende Aspekte der Gegenwart qua definitionem aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
Diese Konstruktion der historischen Kontinuität des litauischen Volkes ist heute noch aktuell und präsent, z.B. im litauischen Wappen, dem Vytis, das sowohl in Großfürstentum Litauen als auch in den litauischen Republiken auf kulturnationalistischer Grundlage als Wappen diente.
Der Mythos als Staatstag umfasst somit sowohl den mythischen Ursprung des litauischen Volkes, als auch das ewige Ziel des Strebens: die Unabhängigkeit Litauens und seine Anerkennung als eigenständiges europäisches Territorium.
von Nicolas Winkler
(aus dem Artikeln „Die Rolle nationaler Mythen in der politischen Kultur Litauens“)
Fortsetzung folgt
VIDEO: Der Krönungstag des litauischen Königs Mindaugas in Rudamina, Litauen
Bild: Die Krönung Mindaugaus (BR-Archiv)
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